Morgen letzter Tag!
Vergangenheit nicht dazu geführt, dass niemandem mehr auf den Kopf geschlagen wurde. Es ist eine dieser typischen Regeln, die im Regelfall befolgt werden, von der es aber immer wieder Ausnahmen zu geben scheint. Das war für Kritiker dieser Regel Anlass zu vermuten, das ganze Konstrukt sei in Wirklichkeit nur ein Trick der Schwachen, sich die Starken vom Leib beziehungsweise vom Kopf fernzuhalten, weil sie eben tatsächlich nur zu schwach seien, denen, die ihnen auf den Kopf schlagen wollten, wiederum ihrerseits auf den Kopf zu schlagen, um so wieder einen » harmonischen« Zustand des ausgeglichenen Schadens herzustellen.
Befürworter der Regel aber sahen gerade in der Ausnahme, also in der Übertretung der Regel, ein Argument für deren allgemeine Gültigkeit. Zwar würde die Regel immer wieder nicht beachtet, aber schon der Vorgang des Nichtbeachtens einer Regel zeige, dass sie vorhanden sei. Immerhin kann nur Vorhandenes ignoriert werden. Nicht Vorhandenes zu ignorieren sei dagegen unmöglich. Also zeige eben gerade die Ausnahme die eigentliche Regelhaftigkeit der Regel. Oder anders: Die Regel wird umso stärker, je mehr man sie übertritt, weil ja jede Übertretung auf ihre Existenz hinweist. Ob das aber tatsächlich ein Trost für die Träger von verbeulten Köpfen darstellt, bleibt ungewiss. Zweifellos aber ist es ein Trost für die Moralphilosophen, die die Regel erfunden und/oder propagiert hatten. Denn weiterhin behaupteten sie, die Regel sei gar nicht er funden, sondern ge funden. Die Regel sei absolut grundsätzlicher Natur, und ihre Übertretung stelle sozusagen die Verletzung eines Naturgesetzes dar, das an sich harmonische Weltengefüge würde durch die Übertretung aufs Spiel gesetzt. Und wer sich einer Übertretung des Gesetzes schuldig mache, wäre also nicht nur vom subjektiv menschlichen Standpunkt aus gesehen schuldig, sondern sogar von einem objektiv metamenschlichen Standpunkt aus.
Was aber immer noch in vielen Fällen nicht dazu führte, dass man gänzlich damit aufhörte, anderen auf den Kopf zu schlagen. Trotz dieser starken Begründung für ihre Befolgung wurde die Regel nur in den meisten Fällen beachtet, in Ausnahmefällen aber immer wieder ignoriert. Köpfe bluteten, aber das Weltgefüge insgesamt schien kaum in Mitleidenschaft gezogen. Und immer wieder wurde die Frage gestellt, was denn eine Regel wirklich wert sei, die nur im Regelfall gelte. Wäre doch ihre Einhaltung, also ihre absolute Verbindlichkeit immer dann am wichtigsten, wenn der Ausnahmefall herrsche.
Also sehen wir uns die Regel noch mal an. » Was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu.« Ich sage, diese Regel kann man nur mit dem Hirzen, dem virtuellen Kombinationsorgan aus Hirn und Herzen, sehen. Es geht also um Vernunft einerseits und Empathie andererseits, das heißt beide Gehirnhälften werden benötigt. Es ist vernünftig, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will, weil dann im Umkehrschluss auch die anderen einen selbst so behandeln, wie man behandelt werden möchte. Man stülpt das eigene Bedürfnis nach außen und projiziert es auf die anderen, die wiederum ihre Bedürfnisse auf einen selbst zurückübertragen. Diese Regel lässt sich also auch positiv aussagen und heißt dann: » Was du willst, das man dir tu, das füge anderen zu.«
Okay. Was aber ist dann jetzt beispielsweise mit den Masochisten? Hielten sich die Masochisten an die Goldene Regel, würden sie alle um sich herum ständig demütigen und quälen, weil sie das selbst ja als wünschenswert empfinden. Ohne Zweifel sind die Masochisten in der Minderheit, stellen also die Ausnahme dar. Doch zeigt sich der Zivilisationsgrad einer Gesellschaft nicht eben an ihrem Umgang mit den Minderheiten? Sollen wir uns also ständig aus moralischen Gründen von einer Minderheit terrorisieren lassen, weil die das wollen und deswegen projektiv annehmen müssen, die Mehrheit wolle das auch? Eben nicht. Man verlangt also von den Masochisten, dass sie die Goldene Regel befolgen, indem sie anderen nicht das antun, was sie selbst gern an sich erfahren würden, sondern dadurch, indem sie das tun, von dem sie glauben, dass die anderen, die » Normalen« in der Mehrheit, es wollen. Wir verlassen hier also schon mal den Bereich des Naturgesetzlichen, der ja eher dem Wissen zugeordnet ist, und wechseln in den Bereich der Mutmaßung. Die Grenzen der Goldenen Regel zeigen sich also schon dadurch, dass man eben kaum weiß, was die
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