Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
Vom Netzwerk:
kaum möglich, Buchstaben zu unterscheiden, und sie hatte es bisher gerade einmal auf drei Wörter gebracht.
    Kind , Leben , sie .
    Mehr hatte sie nicht geschafft. Sie schaltete die helle Schreibtischlampe an. Schon besser. Sie hatte vor, den ganzen Abend weiterzuarbeiten, denn genau diese Arbeit war es, die ihr eines Tages akademische Lorbeeren bescheren sollte.

    Mit Stift und Papier war Ant durch das gesamte Haus gegangen. Nachdem er das Inventar aufgenommen hatte, gesellte er sich zum Rest der Familie, die auf dem schmuddeligen gelben Sofa vor dem Fernseher saß.
    »Was glaubst du, wie lang wir hier in Oxford festhängen?«, erkundigte er sich bei Gren.
    »Es ist nicht meine Schuld«, verteidigte sich Gren. »Ich muss erst das richtige Teil finden.« Dabei wandte er die Augen nicht vom Bildschirm. Die Familie sah sich eine Krimiserie an. Ant hatte den Eindruck, dass auch Angel zusah. Sie saß in einer Sofaecke und hatte dem Fernseher das Gesicht zugewandt; ihr Gesichtsausdruck allerdings veränderte sich nie. Ebenso gut hätte es sein können, dass sie schlief. Plötzlich tauchte auf dem Bildschirm der überdimensionale Pfefferstreuer auf; anscheinend war der Film in Oxford gedreht. Ant bevorzugte das wirkliche Leben und sah nicht oft fern.
    »Ich wollte dich nicht kritisieren«, sagte er zu Gren. »Ich frage nur. Ich habe da etwas gesehen.«
    »Was denn?« Grens Augen ruhten immer noch auf dem Fernsehschirm.
    »Eine Möglichkeit. Was glaubst du? Mehr als zwei Tage? Vielleicht drei oder vier?«
    Die Ankündigung von Werbung tauchte auf dem Bildschirm auf. In wenigen Sekunden würde Gren Ant seine völlige Aufmerksamkeit zuwenden, und nicht nur den kleinen Teil, den der Krimi übrig ließ. Ant wartete, bis eine sehr sexy aussehende Dame ihren Versuch beendet hatte, ihnen Pulverkaffee zu verkaufen, und fragte dann erneut:
    »Was glaubst du? Wie lange bleiben wir hier?«
    »Drei bis vier Tage – das käme schon hin«, sagte Gren. Er gab nicht gern zu, dass er nicht sofort besorgen konnte, was die Familie jetzt brauchte.
    Ant knuffte ihm beifällig die Schulter. »Triffst du deine Kumpel morgen wieder?«
    »Kann schon sein«, brummte Gren, während seine Augen zu einer Werbung für Altersvorsorge abschweiften.
    »Weißt du«, fuhr Ant fort, »ich habe da eine Liste von Dingen, die wir gut brauchen könnten. Glaubst du, du könntest sie besorgen?«
    Gren warf einen Blick auf den Zettel. »Ich kann mich mal umhören«, sagte er, »und sehen, was sich machen lässt.«
    Der zweite Teil des Krimis begann. Gren sah zu, wie sich PS-starke Fahrzeuge gegenseitig die erstaunlich leere High Street entlangjagten.
    Ant lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er kannte Grens Art zu antworten und wusste, dass er alles besorgen würde, was auf der Liste stand. Ganz kurz blitzte in seinem Kopf die Frage auf, wie der Hausbesitzer reagieren würde, wenn er von seiner Konferenz zurückkehrte und sah, was sie gemacht hatten. Doch dann fiel sein Blick auf die Spinnweben an der Decke, und er sah, wie der von Angel geputzte Fernseher blinkte und blitzte. Er verdient uns überhaupt nicht, dachte Ant und verbannte den Mann aus seinem Kopf. Morgen würde er sich nach geeigneten Geschäftsräumen umsehen.

    Was Angel anging, so hatte Ant Recht. Sie saß nur vor dem Fernseher, weil es einfacher war, als den anderen zu erklären, dass sie lieber für sich allein nachdenken wollte. Zwar wandte sie ihr Gesicht dem Bildschirm zu, doch die bewegten Bilder spielten sich in ihrem Kopf ab.
    Seitdem der Stadtführer den Namen des Leicester College erwähnt hatte, versuchte sie, Puzzleteile in einer sinnvollen Weise aneinander zu fügen. Das Schlimme war, dass damit einige Erinnerungen zurückkehrten, die sie lieber in der Vergessenheit hätte schlummern lassen. Die wirklich wichtigen Dinge jedoch kehrten nicht zurück.
    Vor allem zum Beispiel die Tage, bevor Ant und Dime sie in der U-Bahn-Station Leicester Square gefunden hatten. Sie wusste nicht einmal, wie viele Tage es gewesen waren. Eine Woche? Zwei Wochen? Vielleicht sogar drei? Sie wünschte sich inständig, sie könnte sich wenigstens an irgendetwas erinnern. Ganz egal, was. Doch in ihrer frühesten Erinnerung ging sie eine Straße entlang – sie wusste nicht einmal, um welche Straße es sich handelte – und stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, wer sie war und was sie dort tat.
    Von allen beängstigenden Dingen, die ihr widerfahren waren, fand sie am schlimmsten das Wissen darum, dass

Weitere Kostenlose Bücher