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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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sie ihr Gedächtnis verloren hatte.
    Sie wusste nicht, was sie anderes mit sich anfangen sollte, als weiter diese Straße entlangzugehen und Anhaltspunkte zu sammeln, die ihr weiterhelfen konnten. Wie ihr inzwischen aufgefallen war, hatte sie ihr Augenmerk auf die merkwürdigsten Dinge gelenkt. Zum Beispiel war ihr ungeheuer wichtig erschienen, das Datum herauszubekommen.
    Inzwischen wusste sie, dass es um die Zeit des Jahres gewesen sein musste, wenn der feuchte Spätwinter den ersten Frühlingsschimmer durchsickern lässt und der Himmel abends um halb sechs noch einen hellen Lichtstreifen zeigt. Es war nicht gerade der ideale Zeitpunkt für den Kauf eines Kalenders, aber schließlich fand sie doch noch ein paar im Preis herabgesetzte Exemplare. Sie nahm einen in die Hand, blätterte durch die leeren Seiten und fragte sich, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Was hatte sie in all diesen unbeschriebenen Tagen gemacht?
    Eine Verkäuferin trat auf sie zu und fragte, ob sie Hilfe brauche. Was hätte sie antworten sollen? Was hätte die Verkäuferin gemacht, wenn sie die Frage bejaht und sie gebeten hätte, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen? Doch sie hatte den Kopf geschüttelt und das Geschäft verlassen. Im Nachhinein dachte sie, dass sie zumindest nach dem Datum hätte fragen können.
    Danach erinnerte Angel sich an ein Wirrwarr von Tagen voller Kälte, Nässe und ununterbrochenem Hunger. Der Hunger war die einzige Realität, die ihr aus diesen Tagen geblieben war. Außerdem eine konstante Angst; das Bewusstsein, verletzlich zu sein und von anderen Obdachlosen verfolgt zu werden. Dabei war ihr inzwischen längst klar geworden, dass sie nichts von dem besaß, was sie begehrten – außer der Tatsache, eine Frau zu sein.
    Vielleicht waren es der Hunger und die wilde Verzweiflung in dem Hohlraum, wo ihre Erinnerung hätte sein müssen, die sie vor ihren Verfolgern geschützt hatten. Sie schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen.
    »Toll, nicht?« Dimes Stimme bohrte sich in ihre Gedanken. Der Fernseher spie schon wieder eine kostspielige Werbung ins Wohnzimmer. »Das war Oxford, Angel«, erklärte er freundlich, »der Ort, wo wir jetzt gerade sind.«
    »Ich weiß. Danke schön, Dime.« Sie kehrte in ihre eigene Gedankenwelt zurück. Eigentlich ging es ihr gut. Sie kannte den Namen der Stadt, wo sie sich aufhielt, und die Namen der vier jungen Männer, mit denen sie lebte. All das bot ihr eine enorme Stabilität und einen wirklichen Fortschritt gegenüber der Unsicherheit jener früheren Tage.
    Nach dem Wirrwarr der Tage – oder waren es Wochen gewesen? –, in denen sie gelernt hatte, sich zu verteidigen, Essen zu stehlen und sich in einer eiskalten Nacht einen Schlafplatz in einer Einfahrt zu suchen, war das nächste klare Bild der Tag, an dem sie Ant, Gren und Dime getroffen hatte. Vermutlich war sie in einem schrecklichen Zustand gewesen, als die drei sie gefunden hatten, und Angel konnte es immer noch nicht fassen, dass sie sie überhaupt beachtet hatten. Es war in London gewesen, wie man ihr später erzählt hatte. Die Familie hatte sie in ihre Wohnung in Notting Hill gebracht.
    Mit gerunzelter Stirn versuchte Angel, die Bilder zu ordnen. Zunächst erinnerte sie sich an Dunkelheit. Dann an ein Durcheinander von Stimmen. Laute Stimmen, die ärgerlich schimpften. Grens Stimme, die sie beruhigte – sie war der Meinung gewesen, sie selbst hätte voller Verzweiflung geschrien. Gren, der ihr sagte, dass es nur die Nachbarn waren und nichts mit der Familie zu tun hatte. Die Familie wurde nie laut.
    Dann hatte es eine Zeit der Reise gegeben. In einem Lieferwagen waren sie übers Land gefahren. Angel erinnerte sich an Motorenlärm, der durch ihre Träume und Albträume dröhnte. Das Röhren des Auspuffs, das von Tag zu Tag lauter wurde. Ein Tag der Stille, als Gren den Wagen reparierte. Danach waren sie weitergefahren, aber wenigstens war der Lieferwagen leiser. Alles, was ihr aus diesen Tagen im Gedächtnis haftete, war häufiges Einschlafen und abruptes Aufwachen mit steifem Nacken, oder weil ihr Kopf nach vorne auf die Brust gesunken war.
    Sie mussten irgendwo angekommen und eingezogen sein, denn als sie das letzte Mal aufwachte, befand sich ihre Umgebung im Ruhezustand, und sie war allein.
    Das Erste, was sie sah, war ein runder, grüner Hügel vor ihrem Fenster. Nur wenige Fuß entfernt stieg er steil an und erfüllte das gardinenlose Fenster mit Grün. Es war das Grün eines friedlichen Weihers, das

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