Morgen trauert Oxford
sie überhaupt weiter Bücher schreiben könnte, wenn sie rund um die Uhr von einem Baby beansprucht wurde. Und was, wenn die eigenen Kinder sich so entwickelten wie die der Nachbarn? Schluss damit, Kate.
Sie wandte sich wieder dem Manuskript zu. Das Schlimme war nur, dass das gemeine Ding voller Anspielungen auf Babys und Kinder zu sein schien. Anscheinend gab es bei diesem Thema kein Entkommen. Wenn Kate in die Stadt ging, sah sie überall Babys in Tragetüchern und Kleinkinder in Buggys. Glücklicherweise hatte sie inzwischen die Passage über Mr Tringham übertragen. Zwar empfand Kate sie für ihre persönlichen Belange als enttäuschend, doch sie bewies, dass Professor Adams und Frances nichts vor ihr verborgen hatten.
Kates Augen brannten. Sie stützte den Kopf in die Hände und versuchte, ihren müden Lidern einen Moment Ruhe zu gönnen. Vielleicht wäre es angebracht, den Professor anzurufen und ihm zu erzählen, dass sie inzwischen Olivias Übertragung der Seite besaß, an der er und seine Schwester gearbeitet hatten.
Sie rief in Garsington an. Frances ging ans Telefon.
»Wieso wollen Sie ihn sprechen?« Ihre Stimme klang misstrauisch und ausgesprochen unfreundlich. Was mochte geschehen sein? Hatte sie etwa eine altmodische Höflichkeitsregel verletzt?
»Es geht um die Ternan-Manuskripte. Ich wollte kurz mit ihm über Seite dreiundvierzig reden. Möglicherweise könnte ich ein paar Einzelheiten zu unserem Gespräch beitragen, die den Professor interessieren dürften.« Das hatte sie doch wirklich taktvoll formuliert, oder? So zaghaft, dass es fast nichts sagend klang.
»Verstehe.« Frances klang nur geringfügig weniger abweisend. Hatte sie etwa Wind von der kleinen Freundin in Westbourne Terrace bekommen und verdächtigte Kate? »Ich hole ihn. Allerdings befürchte ich, dass ihn das Ereignis ganz schön aufgeregt hat.«
»Was für ein Ereignis?«, rief Kate ins Telefon, doch Frances hatte bereits den Hörer abgelegt. Kate hörte das Hallen ihrer Schritte im Flur.
War ihre Täuschung gestern im College aufgeflogen? Oder hatte Olivia etwa die fehlenden Seiten bemerkt und beschuldigte den Professor, sie genommen zu haben? Lächerlich. Das war es sicher nicht. Olivia würde Jahre brauchen, ehe sie im Tohuwabohu ihres Büros überhaupt etwas vermisste. Doch selbst wenn dies der Fall war, würde sie wohl kaum sofort ihren Vorgesetzten des Diebstahls bezichtigen.
»Hallo Kate.« Der Professor klang wie ein alter Mann. Und zwar wie ein alter Mann, der soeben ganz schlechte Nachrichten bekommen hat. Kate vergaß, was sie ihm sagen wollte.
»Was ist denn los? Was ist passiert?«
»Sie haben es also noch nicht gehört. Sie wissen es nicht.« Feststellungen, keine Fragen. Sie schwiegen, während der Professor überlegte, wie er sich am besten ausdrücken sollte. »Olivia. Sie ist tot.«
»Was ist sie?« Bitte sagen Sie, dass es ein Unfall war. Oder dass sie durchgedreht ist und Selbstmord begangen hat. Nur nicht, dass …
»Sie wurde ermordet.«
»Oh mein Gott!«
»Kann man wohl sagen. Wir sind alle völlig fertig. Sicher war sie kein besonders umgänglicher Mensch – aber wer erwartet denn so etwas in einem Oxforder College?«
Ganz egal, wo es passiert. Niemand erwartet es. Nirgends.
»Wie?« Kate konnte nur diese eine Silbe krächzen.
»Die Polizei hält sich bedeckt. Sie rückt kaum Informationen heraus.«
»Wissen Sie, wann es geschah?«
»Anscheinend gestern Nachmittag.«
»Und wo?«, fragte Kate. Doch eigentlich wollte sie die Antwort gar nicht wissen.
»In ihrem Büro im College.«
»Ein Einbrecher vielleicht? Ein Dieb, der gestört wurde?« Kate klammerte sich an jeden Strohhalm.
»Sie erinnern sich doch sicher, dass gestern das traditionelle Mourning Ale ausgeschenkt wurde. Für einen Zufallstäter wäre es viel zu schwierig gewesen, bis ins College vorzudringen.«
Beide schwiegen eine geraume Weile. Kate dachte daran, wie sie sich ins Leicester College eingeschmuggelt hatte und in Olivias Büro eingedrungen war. Aber Olivia war noch sehr lebendig gewesen, als Kate sich wieder davongemacht hatte. Sie hatte sich lautstark mit Liam gestritten. Liam. Und wenn er nun zurückgekommen war, um die Auseinandersetzung fortzuführen? Und wenn er …
Nein, nicht Liam. Für Liam gab es nur eine Richtung, wenn Streit aufkam, nämlich möglichst weit weg davon. Nachdem Kate an Olivia vorbei in den Clifford-Hof gegangen war, hatte sie den Professor mit Ludo getroffen. Wahrscheinlich erinnerte sich
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