Morgen trauert Oxford
dass Paul nicht dabei war, als sie bei einem ernsten jungen Constable auf der Wache ihre Aussage machte. Auf dem Weg zum Polizeirevier war sie am Leicester College vorbeigekommen, wo sich ganze Schwärme von Uniformierten herumtrieben. Wahrscheinlich hatten sie schon dutzende Aussagen aufgenommen und dabei immer wieder von einer Frau mit kurzem, blondem Haar gehört, die zur fraglichen Zeit auf dem Gelände gesehen worden war.
»Stimmt, ich fand den Versuch, mich am Tag des Mourning Ale ins College zu schwindeln, irgendwie witzig«, erklärte sie. »Aber ich hatte tatsächlich eine Verabredung mit Dr. Blacket. Sie arbeitete an den Tagebüchern und Briefen einer Frau, an der ich sehr interessiert bin. Wissen Sie, ich bin Schriftstellerin.« Sie lächelte geziert. Doch der Polizist beachtete weder ihr Lächeln noch das begleitende Wimpernklimpern.
»Als ich in ihr Büro kam, war niemand da. Aber sie hatte mir ihren Schlüssel gegeben, falls sie sich verspäten würde.«
Und sie zog Olivias Schlüssel aus der Handtasche wie ein Zauberer sein Kaninchen aus dem Zylinder.
»Ich musste ein paar Minuten auf sie warten. Sie gab mir die beiden Seiten des Ternan-Manuskriptes, um die ich sie gebeten hatte; danach ging ich. Ich fürchte, ich habe weder etwas gesehen noch gehört, was Ihnen weiterhelfen könnte.«
Der Constable notierte die Zeit, die Kate in Olivias Büro verbracht hatte, nahm den Schlüssel an sich und teilte ihr mit, dass sie demnächst Besuch von einem ranghöheren Kollegen erhalten würde, dem gegenüber sie ihre Aussage bestätigen könne.
»Außerdem würden wir gerne Ihre Fingerabdrücke nehmen, Madam.«
»Warum das denn?«
»Um sie unter den Spuren, die wir im Büro gefunden haben, wiederzuerkennen. Schließlich wollen wir Ihre Abdrücke nicht mit denen von Schwerverbrechern verwechseln.«
Kates Fingerabdrücke wurden genommen und ihre Aussage ins Reine geschrieben und mit einer Unterschrift versehen. Dann ließ man sie gehen.
KAPITEL 11
Darauf nimmt der Teufel ihn mit in die heilige Stadt und stellt ihn auf die Zinne des Tempels …
Matthäus 4,5
K
ate ging nach Hause und schrubbte sich die schwarze Tinte von den Fingern. Wie sollte sie weiter vorgehen? Es machte nicht viel Sinn, zu warten, anzurufen oder die Sache auf die lange Bank zu schieben. Wenn sie Liam sprechen wollte, war es das Beste, schnurstracks noch einmal in die Stadt zu gehen und ihn in seinem Büro im College aufzusuchen.
Sie verwandte einige Sorgfalt darauf, so auszusehen, wie er sie später reuevoll in Erinnerung behalten sollte, und machte sich auf den Weg.
Sie betrat das Leicester College, ohne sich durch den Pförtner anmelden zu lassen. Liam sollte nicht vorgewarnt werden, um sich nicht plötzlich eines Termins zu entsinnen oder dafür zu sorgen, dass jemand anrief und sie unterbrach.
Kate klopfte an die Tür und ging hinein, ohne eine Antwort abzuwarten.
Er saß am Schreibtisch, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Eine Hand lag an der gerade gelesenen Stelle im Buch. Er hatte lange, empfindsame Hände mit schön geformten Fingern. Kate vermutete, dass er sich dessen sehr genau bewusst war und sogar vielleicht übte, damit sie auf einem Buch besonders vorteilhaft wirkten. Zu seiner Rechten stand ein Computer, links befand sich ein Stapel Papiere.
»Kate!« Kein Wunder, dass er verblüfft dreinblickte. Noch nie war sie unangemeldet in sein Büro gekommen. Sie sah ihm an, dass er sein Hirn in aller Eile nach triftigen Gründen durchstöberte, die ihr Bleiben verhinderten oder sein Gehen unumgänglich machten, doch ehe er einen davon vorbringen konnte, hatte sie sich bereits in den bequemen Sessel fallen lassen, in den er seine Lieblingsstudenten zu komplimentieren pflegte, und sagte:
»Es dauert bestimmt nicht lang, aber wir müssen miteinander reden. Du brauchst auch gar nicht erst ein Meeting oder wichtigen Besuch vorzuschützen; stattdessen solltest du den Anrufbeantworter einschalten und die Außentür schließen.«
Er blickte ihr ins Gesicht und stellte fest, dass sie wirklich meinte, was sie sagte.
»Sherry?«, fragte er. Selbst jetzt noch konnte sie seinem Gesicht mit dem freundlichen, mitfühlenden Ausdruck kaum widerstehen. Vermutlich saßen seine Studentinnen mit verträumten Augen in diesem Sessel und bewunderten ihn rückhaltlos, während er sich in ihrer Hingabe sonnte und jeden Moment genoss.
»Nein, danke, keinen Sherry. Ich mag das Zeug nicht. Möchtest du nicht wissen, worum es
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