Morgendaemmerung der Liebe
befürchteten, dass er nur noch einige Monate zu leben hatte. Ihre Mutter betonte: „Ich bin wirklich froh, dass du nach Hause kommst, Jessica. Er hat dich vermisst.“ Nach dieser Bemerkung hätte nichts und niemand Jessica davon abhalten können, nach Queensmeade zu fahren. Nicht einmal die Aussicht darauf, stundenlang mit Jake in einem Auto sitzen zu müssen.
„Aber du darfst seine Krankheit nicht erwähnen“, hatte ihre Mutter am Telefon gemahnt. „Er hasst es, darüber zu reden. Er will, dass alles völlig normal ist.“
Das konnte Jessica nachvollziehen. Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. Mark war nicht ihr leiblicher Vater, aber sie liebte ihn. Und plötzlich schlug das Schuldgefühl über ihr zusammen, so selten nach Hause gefahren zu sein. Aber Jake war ja immer da gewesen …
„Willst du den ganzen Abend da stehen bleiben?“, riss Jakes ungeduldige Stimme sie aus ihren Gedanken.
Jessica presste die Lippen zusammen und stieg in den Wagen. Mit Jake würde sie ihre Angst um Mark ganz sicher nicht besprechen. In seiner Miene war keine Sorge um seinen Vater zu erkennen, Trauer schon gar nicht.
Jessica rief sich zur Ordnung. Das war unfair. Jake liebte Mark, das wusste sie. Daher unternahm sie doch einen Versuch, mit ihm über seinen Vater zu reden. „Mutter sagte, dass es schlimmer um Mark steht, als anfangs vermutet.“
Jake wandte ihr das Gesicht zu und startete den Motor. Er sah müde aus, tiefe Linien hatten sich in seine Züge gegraben. Sie bemerkte es erst jetzt. Ohne Mark lag die ganze Verantwortung von Brierton Industries auf seinen Schultern. Zwar leitete er die Firma schon länger, aber größere Entscheidungen hatte er immer mit Mark zusammen getroffen.
„Stimmt, es geht ihm nicht gut.“ Seine knappe Antwort warnte sie, dass sie sich auf verbotenes Gebiet vorwagte.
Dennoch musste sie mehr wissen. „Gibt es denn nichts, was man tun kann? Eine Operation, Medikamente …“
„Es gibt ein neues Medikament, doch das ist noch in der Versuchsphase. Wenn er die nächsten zwölf Monate überlebt, kann er es vielleicht nehmen.“
„Hält er noch so lange durch, Jake?“ Bang schaute sie ihn an, während er sich in den fließenden Verkehr einfädelte.
„Möglich. Wenn man ihm einen guten Grund zum Durchhalten gibt.“
Dieses Mal war seine gepresste Antwort nicht misszuverstehen. Er wollte nicht mit ihr über Mark reden.
„Er freut sich darauf, dich zu sehen.“ Seine leise Bemerkung nach einer längeren Pause überraschte sie. Jake lächelte spöttisch. „Du weißt, du warst immer sein Liebling.“
Das war nicht zu bestreiten. Mark liebte seinen Sohn, aber es war Jessica gewesen, die er verwöhnt hatte.
„Er hat dich vermisst.“
Sie fühlte sich unerträglich schuldig, dabei war Jake derjenige, der Gewissensbisse haben sollte. Er war schließlich der Grund dafür, dass sie sich gezwungen fühlte, ihr Zuhause zu verlassen und nicht mehr zurückzukommen. Jake, der ihre albernen Jungmädchenträume auf dem harten Boden der Realität zertreten hatte. Er hatte ihr das Herz gebrochen. Doch das sollte er nie erfahren. In ihrem Abschiedsbrief an ihn hatte sie damals als Grund vorgeschoben, dass sie ihre Freiheit behalten und ihr eigenes Leben führen wolle, ohne die Belastung mit Mann und Kindern.
Sie liebte ihren Job, war stolz auf das, was sie erreicht hatte. Doch sie war ehrlich genug, zuzugeben, dass sie auch mit weniger zufrieden gewesen wäre. Sie hätte die Dekorationsarbeit in einem viel kleineren Rahmen betreiben können. Es wäre dann ein Leichtes gewesen, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Und wenn sie sah, wie glücklich Beth war, dann spürte sie einen Anflug von Neid auf ihre Cousine.
Hätte sie doch nur jemanden getroffen, der Jakes Platz einnehmen konnte, jemanden, den sie liebte und er sie. Dann hätte sie sicherlich geheiratet. Dieses Bild der unabhängigen souveränen Geschäftsfrau, das sie der Welt zeigte, war nur eine Fassade. Es lag keineswegs in ihrer Natur, allein zu leben. Sie war nicht einsam, aber sie fand es traurig, dass sie niemandem ihre Liebe schenken konnte. Sie wusste tief in ihrem Herzen, dass sie einer Familie ein wunderbares Heim schaffen könnte.
Je länger sie darüber nachdachte, umso deutlicher wurde Jessica, wie sehr ihr die weite offene Landschaft der Dales und die Herzlichkeit der Menschen dort gefehlt hatten. Auch in Yorkshire könnte sie genügend Arbeit finden – aber wieder hierherzuziehen hieße unweigerlich,
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