Morgenrötes Krieger
sen Alter kamen die Jungen zu den männlichen Zuchtt y pen. Usteyin wußte über die Geschlechter und die Liebe der Eltern zu ihren Kindern; zudem hatte sie eine Menge Geschichten über die Beziehungen von Männern und Frauen gehört, doch sie entbehrten jeder Realität – es war eine Art Freizeitbeschäftigung.
Diesem Zweck diente auch das kleine Spielzeug aus geflochtenen Drähten. Es war eigentlich ein Mechani s mus, der in einer fast unbegrenzten Anzahl möglicher Arrangements und Konfigurationen verändert werden konnte. Dieser Gestaltungswechsel, die Weise, wie das Licht darauf fiel, und die Bewegungen, mit denen sie es handhabte, waren die Grundelemente eines symbolischen Systems, das stark an einen Abakus erinnerte, ein S y stem, das Beziehungen, Emotionen, Ereignisse und Wü n sche als Realitäten kodierte. Sie konnte sich selbst eine unbegrenzte Zahl von Geschichten erzählen, wobei sie die realen Motive und Handlungsabläufe von anderen übernahm, die sie während der seltenen Kontakte ke n nengelernt hatte. Sie war sehr stolz auf ihr eigenes Gerät, denn sie hatte es in ihrer Jugendzeit selber hergestellt. Das Wort, das sie benutzte, war: „großgezogen“. Sie ha t te es großgezogen. Aber sie fürchtete es auch: „Man b e nutzt den ‚Geschichtensammler’ zu oft – der Geist wird süchtig danach. Man versinkt in den Drähten und Perlen; niemand, außer dir selber, kann dich dort wieder herau s bringen.“
Das einzige, was sie außerdem tat und konnte, war e i ne ungewöhnliche Form der Handwebekunst. Ihre Decke war von einer Feinheit, wie sie Han zuvor noch nie ges e hen hatte. Es war sozusagen ihr einziger Besitz: Schutz, Zuhause und Bekleidung in einem.
Sie kannte auch andere Klesh -Arten, aber nur vage und in groben Umrissen. Sie wollte noch mehr erzählen, aber sie wurde schläfrig, und wie die meisten ihrer Art verfiel sie wie eine ausgeblasene Kerze übergangslos in tiefen Schlummer. Han trug sie in das kleine Bett, setzte sie sanft und vorsichtig ab und deckte sie mit ihrer eig e nen Decke zu. Als sie ihre passende Schlafposition g e funden hatte, glitt ein sanftes Lächeln über ihr herrlich geformtes Gesicht, und sie murmelte etwas im Schlaf, was jedoch zu leise war, als daß er es hätte verstehen können. Er selbst war noch nicht müde – zu sehr b e stürmten ihn die verschiedensten Gedanken und Empfi n dungen.
Er dachte an Usteyin. Sie lebte ganz in der Gegenwart. Selbsteinschätzungen, wie bei Liszendir auf der Grun d lage von Traditionen oder wie bei zivilisierteren Me n schen anhand unbewußter und intuitiv gelebter Kultu r werte, waren ihr gänzlich fremd. Sie konnte nicht verst e hen und erkennen, wie diese Werte strukturiert sein könnten, und wenn er ehrlich war, so mußte er sich ei n gestehen, daß er selbst dazu nicht in der Lage war. Um Usteyins Vorstellungswelt begreifen zu können, hätte man alle zivilisatorischen Voraussetzungen abstreifen müssen, um sich dann ganz unvoreingenommen auf di e ses Eigenbild einzustellen, das eher dem eines wilden Tieres entsprach und weniger dem eines Sklaven – denn Sklaven hatten zumindest Aufgaben und Pflichten, erfül l ten einen gewissen Zweck, auch wenn dieser Zweck ein unfreiwilliger Beitrag zur Erhaltung der restlichen G e sellschaft war.
Sie dagegen war ganz und gar Mensch, kein Ler, kein Tier. In diesem Sinne besaß sie einen Fundus an Ne u gierde, Geisteskraft und Veranlagung, der nach Betät i gung drängte. Bisher war ihm vor allem ihre ungeheure Anpassungsfähigkeit aufgefallen. Liszendir hatte ihn selbst – soweit das ging – zum Ler gemacht, um sich ihm verständlich machen zu können. Usteyin dagegen abso r bierte, integrierte und projizierte alles in ihre zeitlose Gegenwart.
Er unterbrach seinen Gedankenfluß, griff nach der Broschüre mit den Zlat-Beschreibungen und las darin, bis ihm die Augen schmerzten. Nachdem er sich einige Zeit mit den langweiligen Hinweisen, der überladenen Spr a che und den vielen Ge- und Verboten herumgeschlagen hatte, wurde er müde, löschte das Licht und legte sich neben den warmen, entspannten Mädchenkörper zum Schlafen nieder. Er verglich sie im Geiste mit all denen, die er bisher kennengelernt hatte: Mädchen waren für ihn durchaus nichts Neues. Aber hier spielte etwas anderes hinein, ein gewisses inneres Wesensmerkmal, das den anderen abging. Ihre Schönheit drückte sich in Körper, Gesicht, Haut und Haltung aus. Dennoch war all dies keine bloße Hülle, hinter der sich
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