Morgenrot
ihnen war zu stark.Vielmehr breitete sich eine wachsende Unruhe in ihr aus, feuerte sie an, Adam ein Zeichen zu geben, dass sie immer noch zu ihm gehörte. Sie würde ihm beistehen, egal mit welchem Dämonen er gerade zu kämpfen hatte. Doch um welchen Preis würde sie das tun?
Mit Schrecken fragte sie sich, wie sie ihm gegenübertreten und in die Augen blicken konnte - mit dem Wissen, dass er gerade vor einer geifernden Meute eine Frau hingerichtet hatte?
Auch der Gedanke daran, welche grauenhaften Spuren sich in der Dunkelheit unter dem Felsvorsprung befinden konnten, ließ den Puls in Leas Schläfen dumpf pochen. Seit dem blutigen Kampf in Etienne Carrieres Haus fürchtete sich sie vor solch grausigen Bildern. Sie hatte am eigenen Leib erfahren müssen, das alles, was man einmal zu sehen bekam, vom Gedächtnis bei jeder unpassenden Gelegenheit wieder hervorgezerrt werden konnte. Die Erinnerung konnte die Gegenwart mit einem schwarzen Tuch durchziehen, das sich schlagartig wie ein Segel aufblähte und den Blick auf das Leben versperrte. Allein die Vorstellung, von Megans toten Augen verfolgt zu werden, war so schrecklich, dass Lea nicht wagte, sich zu rühren.
So kauerte sie noch eine Zeit lang auf dem kalten Stein und biss sich vor Unschlüssigkeit in die Unterlippe. Als sie sich schließlich eingestand, dass es sinnlos war, weiterhin in der Dunkelheit auszuharren, krabbelte sie auf den Vorsprung zu und ließ sich bäuchlings hinabgleiten. Während sie sich durch den Felsenwald tastete, mied sie es tunlichst, den Boden zu betrachten. Auf keinen Fall wollte sie etwas hell Schimmerndes entdecken, das sich bei genauerem Hinsehen als abgebrochener Zahn entpuppen könnte ... Außerdem ignorierte sie nach Möglichkeit das Geräusch ihrer Sohlen und die Konsistenz des Grundes. Falls es dickflüssige Lachen geben sollte, so wollte sie es nicht wissen.
Als sie aus dem Schatten der Felsen hervortrat, sah sie das Zentrum der Höhle mit erschreckender Klarheit. Ihre Augen hatten sich mittlerweile so sehr an das Dämmerlicht gewöhnt, dass das Licht der Scheinwerfer ein unangenehmes Brennen verursachte.
Beim Wasserlauf entdeckte sie Adam, wie er mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden saß. Langsam ging sie auf ihn zu, wobei ihr das Herz bis zum Hals schlug, als wollte es sich einen Weg in die Freiheit sprengen. Einen Schritt vor ihm blieb Lea stehen und beobachtete seine Körperhaltung, in der Hoffnung, dass sie etwas über seinen Zustand aussagen mochte: Der Rücken war gebogen, den einen Fuß hatte er unter den Körper gezogen, während das andere Bein angewinkelt war und das Kinn auf dem Knie ruhte. Er wirkte in Gedanken versunken, die Schultern waren entspannt, der Rücken hob und senkte sich gleichmäßig. Kein Muskelzucken verriet, ob er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte.
Trotzdem gelang es Lea nicht, die Anspannung abzustreifen, die ihren Körper eisern umfangen hielt. Beklommen betrachtete sie Adams Arm,der auf den Boden gestützt war. Der Stoff des Ärmels schimmerte nass. Zwanghaft folgte Leas Blick dem reißenden Flusslauf, dorthin, wo das Wasser im dunklen Schlund der Felswand verschwand. Zwei der Eisenstäbe waren aus den verrotteten Halterungen herausgebrochen worden und boten Platz genug, um sich hindurchzudrängen.
In diesem Augenblick traf Lea die Gewissheit, dass Megans Körper sich nicht mehr in dieser Höhle befand. Ihr Verstand formulierte ausdrücklich Körper, als wolle er die Fantasie bloß nicht anregen, wie es das Wort Leichnam vielleicht vermocht hätte. Zwecklos. Ein ausgebluteter Leichnam, das Gesicht im Augenblick des Todes noch vom Grauen verzerrt ... ein seltsam verrenkter Leichnam, da der Dämon beim Versuch, das neue Haus zu beziehen, sämtliche Knochen gebrochen und die Blutzellen zum Implodieren gebracht hatte ...
Verzweifelt bemühte sie sich, das Aufeinanderschlagen ihrer Zähne unter Kontrolle zu bringen, doch sie ließen sich genauso wenig beherrschen wie ihre wild wuchernde Fantasie. Ich brauche einen Schnaps, eine Tafel Schokolade und eine Wochenration Valium, ansonsten verliere ich hier gleich die Nerven, sagte sie sich mehrmals hintereinander, als handele es sich um ein Mantra.
Gleichzeitig stieg ihr jenes hysterische Kichern die Kehle hinauf, das ihr mittlerweile schon so vertraut geworden war.
»Adam?«, setzte Lea zögerlich an und hasste sofort den flehenden Klang in ihrer Stimme.
Langsam drehte Adam sich um. Dabei stützte er sich auf beide Hände, als wolle er zu
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