Morgenrot
auf dem ein Teeservice mit grünem Blumenmuster angeordnet war, und zwei gewöhnliche braune Sessel. In einem von ihnen saß Etienne Carriere und schob die Lesebrille auf der Nase zurecht. Auf dem Knie balancierte er eins der Bücher mit Kunstlederumschlag.
»Besuch«, sagte Professor Carriere mit einer Freundlichkeit, als hätte Lea höflich an seiner Bürotür angeklopft, um seine Sprechstunde aufzusuchen. »Nehmen Sie doch bitte Platz, Lea, und erzählen Sie mir ein wenig vom Lauf der Welt.«
Lea starrte ihn fassungslos an. Dort saß tatsächlich Etienne Carriere, vielleicht noch ein wenig asketischer wirkend und schmaler, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber ... keine Narben, keine fehlenden Körperteile. Nur ein seltsam vergeistigter Ausdruck, den sie nicht zu deuten wusste.Aber es war unbestreitbar Professor Carriere.
Adam hatte also doch recht gehabt: Es war Adalbert nicht gelungen, Carriere zu zerstören. Stattdessen hatte ihn der Kollektor seiner Sammlung einverleibt. Ob dieser Handel schon bestanden hatte, bevor Adalbert seinen Fuß in Carrieres schöne Villa gesetzt hatte? Adalbert, der Ohnmächtige, der für einen Moment lang die Vorstellung genießen durfte, die totale Herrschaft über seinen ehemaligen Herrn gewonnen zu haben, um ihn im nächsten Augenblick wieder ausliefern zu müssen. Ob Adam das geahnt hatte? Wahrscheinlich ja, denn auf einmal erschien Lea der Gedanke absurd, Adalbert könnte jemals die von Dämonen beseelte Söldnerin Truss für seine Angelegenheiten angeworben haben. Dazu brauchte es schon mehr, als die Rachegelüste eines verstoßenen Dieners.
Mit hölzernen Bewegungen nahm sie den angebotenen Platz ein und beobachtete den Professor, als verberge sich hinter seiner heiteren Miene die Antwort auf unzählige Fragen. Professor Carriere störte sich wenig an dieser Unhöflichkeit. Er nahm die Lesebrille ab und legte sie sorgsam auf den Kaminsims. »Ein wenig Tee?«, fragte er mit seiner melodiösen Stimme.
Geduldig wartete er ab, bis sie sich zu einem Nicken durchringen konnte. Dann zauberte er unter dem Tisch eine zweite Teetasse samt Untersetzer hervor und platzierte sie mit großer Akribie vor Lea. Automatisch fragte sie sich, welchen Besuch der Professor ansonsten hier in seinem dem natürlichen Lebensraum nachempfundenen Kerker empfing. Saß er in trauter Zweisamkeit mit Adalbert zusammen, und sie redeten über alte Zeiten? Allein bei der Vorstellung wurde Lea ganz elend.
Noch elender wurde ihr, als Professor Carriere zur Teekanne griff und ihr einschenkte: Es kam nichts heraus. Kein Tee, nicht einmal Wasser. Davon unberührt, stellte der Professor die Kanne zurück auf das kalte Stövchen.
»Zucker?«, fragte er.
Lea schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Kann ich auch nicht ausstehen«, erklärte er im schönsten Plauderton. »Verklebt einem irgendwie die Zähne.«
In diesem Moment erklang ein ohrenbetäubendes Dröhnen, als hätte ein Blitz in einen Container voller Holzspäne eingeschlagen. Denn obwohl das Geräusch in Leas Ohren nachhallte, erschien es doch zugleich unendlich weit weg. Als liege eine ganze Welt dazwischen. Leas Teetasse war umgekippt, der Goldrand angeschlagen. Sie stellte sie wieder auf und legte dann rasch den Arm auf die Sessellehne. Sie brauchte dringend etwas Reales, an dem sie sich festhalten konnte.
So saßen sie eine Zeit lang schweigend beisammen, wobei Professor Carrieres Gesicht einen abwesenden Ausdruck annahm, gerade so, als wäre ihm entfallen, dass Lea nach all den Jahren plötzlich wieder vor ihm saß. An diesem skurrilen Ort, tief unter der Erde. Beide Gefangene eines Irren, der von einem Dämon besessen war.
Plötzlich regte sich der Professor wieder, und Lea schwor sich, dass, sollte er Anstalten machen, aus seiner leeren Teetasse zu trinken, sie dann schreiend mit dem Kopf gegen die Metalltür rennen würde. Aber er tastete nur nach der Brille auf dem Kaminsims, als wolle er sich versichern, dass sie an Ort und Stelle lag.
»Was lesen Sie denn da?«, fragte sie und deutete auf das Buch, das immer noch aufgeschlagen auf seinem Knie lag.
»Oh ...« Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann wechselte er direkt in seinen Vortragssingsang über. »Eine ungemein spannende Abhandlung über den Menschen als Menschen an sich. Interessiere mich nun schon seit Längerem für Psychologie, durchsetzt mit Anthropologie und Soziologie sowie einer Prise Astrologie - diese Kombination erscheint mir angemessen. Denn bei
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