Morgenrot
Griff gehalten hatte, nach. Der Anblick des Blutes veränderte alles, und nicht nur Adams Aufmerksamkeit war in diesem Augenblick auf die Blutspur gerichtet.
Das gelbliche Oberlicht der Zentralbibliothek ließ die Augenpartien der gesenkten Köpfe im Schatten verschwinden, und der Anblick der feinen Staubpartikel, die durch die Luft flimmerten, nötigte mancher Lunge ein kratziges Husten ab. Eine ganze Zeit lang beobachtete Lea, wie ein junger Mann, der trotz der Hitze eine dieser grellen Trainingsjacken aus verschleißresistentem Plastik trug, in einem ziemlich gleichmäßigen Fünf-Minuten-Takt die Seiten einer medizinischen Enzyklopädie umschlug. Sie gönnte sich noch drei weitere Seiten, die es umzublättern galt, ehe sie sich erneut dem vor ihr liegenden Gemälde zuwandte.
Der Druck von Der Mönch am Meer hatte sich in der Zwischenzeit wieder zusammengerollt. Vorsichtig strich Lea ihn glatt und beschwerte die gewellten Kanten mit Notizblock und Stiftetui. Dann rieb sie sich ausgiebig die vom Schlafmangel brennenden Augen, was diese jedoch noch mehr reizte.
Neben ihr lag das schlechte Gewissen in Form eines Stapels Papier, vollgekritzelt mit geistlosem und schlecht abgekupfertem Zeug. Seit Tagen hatte sie keinen einzigen originellen Gedanken zustande gebracht. Dabei rückte der Abgabetermin bedrohlich näher, und Lea war es nicht gewohnt, unter Zeitdruck zu geraten. Normalerweise flogen ihr die Ideen nur so zu, aber nun herrschte Schweigen. Ihr Herrgott, es konnte doch nicht sein, dass ein Mann, den sie nicht im Geringsten kannte, ihr so sehr Sinne und Verstand benebelte. Adam mochte ungewöhnlich schön sein, gewiss. Aber war Schönheit in der Lage, eine solche Sehnsucht hervorzurufen, dass es einem die Brust zuschnürte? Und das Einzige, was Adam ihr von seinem Wesen offenbart hatte, war seine Unnahbarkeit. Auch das konnte ohne Zweifel reizvoll sein, doch so reizvoll, dass das ganze Leben plötzlich leer erschien, nur weil dieser Mann nicht anwesend war?
Frustriert starrte Lea die schmächtige, schattenartige Figur des Mönchs an, die ihr den Rücken zugewandt hielt und fast aus dem Bild herauszufallen schien. So wie ich aus meinem Leben, dachte sie, während sie mit den Fingern ein zusammengeknülltes Papier quer über den Tisch schnipste.
Erneut versuchte sie, sich auf den Kunstdruck zu konzentrieren, in der Hoffnung, dass das Werk ihr etwas Inspirierendes einflüsterte. Nichts dergleichen geschah. Einige Sekunden beharrte Lea noch darauf, dem Bild etwas Verwertbares zu entreißen, dann gab sie auf und schaute es sich einfach nur an.
Das unendliche Blau des Horizonts, den Caspar David Friedrich so ungewöhnlich tief gelegt hatte, drang in sie ein, zerrte an Haut und Kleidern, riss sie mit ins unendliche Treiben zwischen Himmel und Meer. Ausgeliefert peitschte ihr der Wind die Haare ins Gesicht, riss die Atemluft vor dem Mund weg, so dass sie aufkeuchte. Lea ließ sich treiben, spürte, wie sie schwankte. Ein Brausen umfing sie, vertrieb den letzten Widerstand, löschte jeden Gedanken. Sie ließ sich in die blaue Unendlichkeit fallen, nur allzu bereitwillig gab sie sich auf.
Später hätte sie nicht sagen können, wie lange sie derartig versunken dagesessen hatte, die Hände um die Kanten der Tischplatte gekrallt, bis ihr Bewusstsein sie Tropfen um Tropfen wieder zusammengesetzt hatte. Sie war nicht sonderlich erfreut darüber, denn sofort setzte aufs Neue das brennende Pochen in ihrer Brust ein, das alles andere unwichtig und abgestorben erscheinen ließ.
So kann es nicht weitergehen, beschloss Lea. Es war lächerlich, die Tage wie in Trance zu verbringen und sich um nichts mehr zu kümmern, was einem bislang wichtig gewesen ist. Die Nächte waren auch nicht besser: Die Einsamkeit raubte ihr den Schlaf, ließ sie immer wieder hochschrecken und das dunkle Zimmer nach jemandem absuchen, der nie vorgehabt hatte, es zu betreten. Dennoch wartete alles in ihr darauf, dass Adam zurückkehrte.
Lea lachte bitter. Wahrscheinlich plante ihre von Verlangen zerrissene Seele so lange in der Warteschleife zu verbringen, bis Adam es sich anders überlegte. Ein Plan B war offensichtlich nicht vorgesehen. Sie würde leblos wie Dornröschen abwarten, bis der Prinz sich blicken ließ.
Und wenn nicht? Ach, was war ihr Leben denn schon wert? Alles erschien so sinnlos, gemessen an Adams Abwesenheit.
Erleichtert fühlte Lea, dass etwas wie Empörung in ihr aufstieg. Ein Rettungsanker, nach dem sie hoffnungsvoll griff.
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