Morgenrot
Raum betreten hatte.
Verspielt drehte Lea noch eine Pirouette, um die im Sekundentakt auf die Uhr schielende Megan zur Weißglut zu treiben. Aber ein geradenoch so abgefangener Sturz, als ein Absatz am Teppich hängen blieb, dämpfte ihren Überschwang, und sie verließ mit geröteten Wangen das Zimmer. Die kurzweilige Verschnaufpause war vorbei, Adam erwartete sie.
9. Die Spinne
Megan schritt direkt hinter Lea her und raunte ihr leise die Marschroute zu. Auf Außenstehende hätte Megan leicht den Eindruck einer Entführerin machen können, die ihrem Opfer eine verborgene Waffe gegen die Nieren drückte. Dabei verschwendete Lea keinen einzigen Gedanken mehr an eine Flucht. Die seltsame Erregung, die sie beim Ankleiden ergriffen hatte, hielt immer noch an, und sie musste sich eingestehen, dass ihr dieses Spielchen Vergnügen bereitete.
Sie gingen einen langen Flur entlang, dessen Wände mit moderner Kunst geschmückt waren - Lea zweifelte weder an ihrer Echtheit noch an ihrer absoluten Geschmackshoheit -, während vom Ende des Ganges leises Stimmengewirr und Musik erklangen. Der Flur mündete in eine Empore vor einer breiten Marmortreppe, die in eine große, festlich beleuchtete Halle führte. Das Treppenende wiederum ging nahtlos in einen Steg über, der ein quadratisches, in Marmor eingefasstes Wasserbecken überspannte. Im Wasser schwammen Kois ihre Runden.
An die rechte Seite der Halle schloss sich ein Wintergarten an, von dem aus man wahrscheinlich in den Garten gelangen konnte, den Lea von ihrem Ankleidezimmer aus gesehen hatte. Auf der linken Seite gaben die weit aufgezogenen Schiebetüren den Blick auf einen riesigengemauerten Kamin frei. Über die gesamte, atemberaubend große Fläche verteilt standen Sofas, Korbsessel und Stehtische, die zum Verweilen einluden. Im Wintergarten, zwischen all den Palmen und Orchideen, glaubte Lea sogar, ein Himmelbett zu erspähen.
Doch mehr als ihre Umgebung faszinierten sie die unzähligen Gäste, die sich in der Halle tummelten. Hätte einer ihrer Autoren eine solch bunt gemischte Gesellschaft in einem seiner Romane beschrieben, hätte Leas Kommentar sicherlich »Wir wollen mal lieber nicht übertreiben« gelautet. Und nun stand sie hier in einem zitronengelben Kleid, das dafür geschaffen worden war, alle Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen, und beobachtete das seltsame Treiben. Da unterhielten sich altehrwürdige Herren mit Punks. Tief dekolletierte Venusfallen prosteten sich mit grauen Pagenköpfen der Bildungsbürger zu, und ganz in Schwarz gewandete Künstlerpersönlichkeiten gingen mit eindeutig Minderjährigen auf Tuchfühlung. Zwischen all diesen merkwürdigen Paaren glitten Kellnerinnen in seidig schwarzen Trikots auf Rollschuhen hindurch, wobei sie Tabletts voller Champagnergläser trugen, und Varietekünstler samt Zigarettenmädchen aus einer längst vergessenen Epoche mischten sich unter die Gesellschaft. Aus dem Kaminzimmer drang die mitreißende Version von Presidenüal.
Ein sicherlich zwei Meter großer, schwarzer Transvestit mit Plateaustiefeln und in einem paillettenbesetzten Turnanzug, der Abba alle Ehre gemacht hätte, zog Leas ganze Aufmerksamkeit auf sich. Sie war von seinem Auftritt derart begeistert, dass sie sich unbedingt jemandem mitteilen musste, selbst wenn es Megan war. Um nicht wie ein kleines Kind mit dem Finger auf das schillernde Paradieswesen zeigen zu müssen, riss sie widerwillig ihren Blick los und wollte ihr über die Schulter etwas zurufen. Doch Megan war nicht mehr da.
Lea stand allein auf der Empore und spürte, wie ihr die Unsicherheit mit heißen Fingern ins Gesicht glitt. Nicht, dass sich bisher jemand aus der Gesellschaft für die einsame Figur auf der Balustrade interessiert hätte. Dafür waren alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber mit einem Mal fühlte sich Lea wie Aschenputtel, deren Prinz vergessen hatte, am Ende der Treppe auf ihren Auftritt zu warten. Wahrscheinlich vergnügte sich Adam bereits bestens, während sie hier oben allein und verlassen herumstand.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich ins Ankleidezimmer zurückzuziehen und auf der Chaiselounge liegend auf standesgemäße Rettung zu hoffen. Doch dann dachte sie an ihr Spiegelbild, das ihr verführerisch zugeblinzelt hatte. Heute Nacht war sie eine andere Lea: eine außergewöhnliche Lea auf einem rauschenden Fest. Beschwingt, aber immer noch die Stilettos bedenkend, schwebte sie die Treppe hinunter und steuerte direkt auf den
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