Morgenrot
dich verpissen, Süße, solange du noch die Gelegenheit dazu hast.«
Am Ende mit ihrer Geduld jagte Lea ihm Kugel Nummer vier in den Oberschenkel. Dabei hatte sie eindeutig höher gezielt.
Mit einem dumpfen Stöhnen umfasste Macavity die sprudelnde Wunde. »Verdammte Scheiße, ich laufe ja regelrecht aus!«
Ganz so ernst schien die Lage doch nicht zu sein, denn in das schmerzdurchwirkte Fluchen stahl sich ein Lachen, das Leas Furcht zurückkehren ließ. Augenblicklich begannen ihre Unterarme zu zittern, als könnten die überanstrengten Muskeln die Waffe keine Sekunde länger halten. Ihr wurde bewusst, dass ihre Zunge wie festgewachsen am Gaumen klebte und sich weigerte, die dringend benötigte Luft vorbeizulassen. Plötzlich reichte der ganze Sauerstoff des Raumes nicht mehr aus, um Leas Lungen das zu geben, wonach sie sich so brennend sehnten.
Himmel, nur noch ein paar Minuten durchhalten, spornte sie sich an. Sie glaubte das schwache Signal einer Sirene zu hören, aber vielleicht spielte ihr das Piepsen im Ohr auch einen Streich. Gerade als Macavity die Hände von der Wunde nahm, deren Blutung allmählich versiegte, zerrte Nadine mit einem Wutschrei Lea die Waffe aus den zitternden Händen.
»Ich knall das Dreckschwein ab! Du wirst nie wieder deine Scheißfresse aufreißen und zubeißen, du verdammter Bastard!«
Nadine feuerte ab, ehe Lea reagieren konnte. Der unerwartete Rückstoß riss ihr die Waffe aus der Hand, die mit einem Krachen aufs Parkett schlug und unter den Futon schlitterte. Hastig schwenkte Lea den Kopf in Macavitys Richtung, bloß um festzustellen, dass Nadines Kugel lediglich eine Schneise in dessen schwarzes Haar geschlagen und die Kopfhaut angeritzt hatte.
Dicht neben sich registrierte Lea eine Bewegung: Nadine wollte sich auf Macavity stürzen. Im letzten Augenblick fasste sie die Freundin um die Taille und zog sie zurück. Trotz ihres geschwächten Zustands wehrte sich Nadine wie von Sinnen, und Lea musste ihre ganze Kraft aufbieten, um die tobende Frau wieder auf das Bett zu drängen.
»Hände weg, ich bring ihn um!«, schrie Nadine und schlug blindwütig nach Leas Gesicht und Armen. Doch schließlich gab sie nach und blieb vor Erschöpfung ausgestreckt auf dem Rücken liegen.
Gerade als Lea nach der Waffe greifen wollte, spürte sie einen gnadenlosen Griff in ihrem Haar. Ohne ein Wort zu verlieren, zerrte sie ein humpelnder Macavity hinter sich her. Alles ging so schnell, dass sie nicht einmal die Chance bekam, sich zu wehren. Macavitys Schwung zog sie einfach mit sich durch den Raum, und der beißende Schmerz, als er ihr das Haar strähnenweise ausriss, jagte Blitze hinter ihre zugekniffenen Augenlider.
Im nächsten Augenblick verpasste Macavity ihr einen brutalen Stoß, und sie flog kopfüber durch den Fensterrahmen. Dabei zerschnitt eine der übrig gebliebenen Scherben, die wie gläserne Klippen aus dem Holz hervorstachen, ihre Hose und streifte den Hüftknochen. Doch der Schmerz erreichte Leas Gehirn nicht - er wurde vom Aufprall ihrer Schulter auf die steinerne Terrasse überlagert.
Betäubt blieb sie auf dem Rücken liegen. Ehe die Bewusstlosigkeit sie umfing, tauchte vor ihr eine verschwommene Dämonenfratze auf. Dann wurde sie unter den Armen gepackt und hochgezerrt. Lea schrie vor Pein auf: Macavity hatte den von der ausgerenkten Schulter leblos baumelnden Arm gegriffen und zog sie quer durch das Gestrüpp des Gartens. Wie von Sinnen setzte Lea einen quälenden Schritt vor den anderen, unfähig, ihm den verletzten Arm zu entreißen.
Als sie auf den beleuchteten Gehweg traten, erkannte sie am Ende der Straße, die noch im morgendlichen Dunst lag, den Schemen eines Joggers. Wie würde der Mann wohl reagieren, wenn er einen blutverschmierten nackten Kerl sah, der eine halb ohnmächtige Frau hinter sich herschleifte? Sobald er einen Blick auf Macavitys Gesicht werfen würde, in dem sich eine Mischung aus Größenwahn und Zerstörungsfreude spiegelte, würde er wahrscheinlich das Letzte aus seinen Beinen herausholen. Erst zu Hause, wenn alle Türen gesichert und er mit dem Baseballschläger seines Sohnes bewaffnet wäre, würde er einen Anruf bei der Polizei tätigen. Bis dahin wäre Macavity mit ihr längst über alle Berge verschwunden. Doch bevor der Schatten des Läufers im Morgengrauen feste Konturen annehmen konnte, verschwand er in einem der Hauseingänge. Ein enttäuschtes Seufzen entfloh Leas Lippen, und sie hasste sich für diese Schwäche.
Macavity schenkt ihr ein
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