Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
kommen.
»Wollen wir?«, holt mich Nevis‘ erschöpfte Stimme aus meinen Gedanken.
»Ja.« Ich sehe hoch zur Sonne. »Sie müssten jetzt im Gebet sein.«
»Dann warten wir. Aber bitte drinnen.«
Nachdem wir das Tor passiert haben, seufzt Nevis erleichtert auf. Hier sind wir in Sicherheit, dennoch beginne ich mich zu fragen, ob dieser mir so vertraute und geliebte Ort zu meinem Gefängnis werden könnte, wenn Gaia uns unser gemeinsames Leben nicht gönnt? Wir stehen in dem kleinen Innenhof, den die Hüterinnen in der Mitte als kleinen Kräutergarten nutzen. Es ist ganz leise und niemand ist zu sehen.
»Komm, wir gehen in die große Halle«, schlage ich vor. Wenn die Hüterinnen aus dem Gebet kommen, laufen sie uns direkt in die Arme. Zittrig ergreife ich Nevis‘ Hand und führe ihn durch einen kleinen Seitengang in den Raum, aus dem mich Gaia mit in ihr Reich genommen hat. Alles wirkt unverändert … als wäre ich nie weg gewesen. Irgendwie ist das befremdend, aber tröstlich zugleich. Nevis lässt sich hustend auf eine Bank fallen und beginnt damit, seinen Rucksack herunterzuzerren. Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibt er sich den Nacken und stöhnt leise.
»Alles okay?«, frage ich ihn und lasse mich neben ihm nieder.
»Ja, ich denke schon.« Er lächelt mich müde aus matten Augen an. »Ich hätte das alles hier nur schon gerne hinter mir.«
»Ich auch«, seufze ich und stecke meine zitternden Hände zwischen meine Beine, um sie mit meiner eigenen Körperwärme zu beruhigen. Die Tür zum Gebetsraum geht auf und ich springe hoch. Die Erste, die hinaustritt ist meine Ordensschwester Prilla. Sie bleibt stehen, stutzt und schreit dann überrascht auf.
»Maya?«, ruft sie. »Was tust du hier?«
Ein Stimmgewirr ertönt hinter ihr und sie wird förmlich in den Raum gedrückt, damit die anderen ebenfalls hinaus können. Ich betrachte die Gesichter der Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin, und Tränen steigen in meine Augen. Dann erscheint eines der Gesichter, auf die ich gewartet habe.
»Iria«, schluchze ich und stürze in die Arme meiner vor lauter Freude schreienden Freundin.
»Maya … Maya bist du das wirklich?«, will sie wissen und drückt mich von sich, um mich zu untersuchen. »Oh Göttin, was tust du hier?«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagt eine erstaunte Stimme hinter ihr. Ich sehe über ihre Schultern und in die Augen meiner Mutter. Sie trägt die Robe der Oberin.
»Mama«, bringe ich erstaunt hervor. Meine Mutter ist das neue Oberhaupt?
»Maya, was machst du hier?« Ihre Augen sind panisch aufgerissen, doch sie nimmt mich in die Arme und drückt mich fest an sich. »Hat Gaia dich geschickt?«
»Nein«, schluchze ich und drücke mich von ihr weg. »Wir sind geflüchtet.«
»Wir?«
Mama und ich drehen uns um. Kurz zucke ich zusammen, weil Nevis unverhofft hinter mir steht und meiner Mutter in die Augen sieht. Augenblicklich fällt sie wie bereits einige der anderen Hüterinnen auf die Knie.
»Heilige Mutter aller Dinge«, raunt sie und sieht dann zu mir auf. »Maya, ist das … Jesien?«
»Nein«, antwortet Nevis bevor ich etwas sagen kann. Er schlingt seinen Arm schützend um meine Körpermitte und ich lehne mich ihm leicht entgegen. »Ich bin Nevis. Der Winter.«
»Ihr … ihr habt mir eine Nachricht geschrieben«, stammelt Iria und ich nicke ihr zu.
»Ich habe mich falsch entschieden, Mama«, erkläre ich. »Ich gehöre zu Nevis und Jesien sieht das genauso. Er hat mich gehen lassen.«
»Aber was zur Göttin macht ihr jetzt hier?« Noch nie habe ich meine Mutter so verwirrt gesehen.
»Meine Mutter wird es nicht erlauben«, kommt Nevis mir zu Hilfe. »An diesem geweihten Ort kann sie uns nichts anhaben.«
»Moment mal«, versucht Mama ihre Gedanken zu sortieren und fuchtelt dabei mit ihren Händen in der Luft herum. »Ihr seid vor Gaia davongelaufen?«
Nevis und ich nicken.
»Muss ich also damit rechnen, dass hier jeden Moment die wütende Göttin auftaucht?«
»Vielleicht«, antwortet Nevis, was meine Mutter dazu bringt, nervös ein paar Schritte auf und ab zu laufen.
»Das könnt ihr nicht machen«, sagt sie mit eigenartiger Stimme. »Gaia hat uns allen das Leben gerettet. Sie heilt diesen Planeten. Ihr dürft sie nicht verärgern.«
»Aber wir lieben uns«, murmele ich dazwischen und blinzele eine Träne weg.
»Oberin, ich verstehe Ihre Bedenken«, sagt Nevis und klingt vollkommen erschöpft. »Aber wir sind tagelang durch die verbotene Zone gewandert. Wir sind
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