Morland 02 - Die Blume des Bösen
schleuderte.
Mersbecks Kontakt mit dem Eskaton war alles andere als freiwillig gewesen. Strashok hatte ihn nach der Agentenausbildung an der Blume riechen lassen und war dabei zweifellos ganz bewusst das Risiko eingegangen, eines der hoffnungsvollsten wissenschaftlichen Talente der Universität von Lorick zu töten. Mersbeck war ihm deswegen noch nicht einmal böse gewesen. Vom Standpunkt des Wissenschaftsministers aus gesehen war es die einzig mögliche Vorgehensweise gewesen, denn wer immer eines dieser Gebilde genauer untersuchte, wurde ohnehin irgendwann infiziert. Und zu diesem Zeitpunkt war das Kollektiv so verzweifelt gewesen, dass es keinen anderen Ausweg sah, als Mersbeck einzuweihen.
Nun, Mersbeck hatte Glück gehabt, wenn man es so nennen wollte. Er überlebte die Infektion und stieg ins Kollektiv auf, nur dass er davon zunächst einmal nichts mitbekam. Der Schock, den sein Nervenssystem bei der Infektion, dem Aufstieg , wie das Kollektiv es nannte, erlitt, hatte ihn erst einmal außer Gefecht gesetzt. Erst nach einer Woche war er in der Lage gewesen, die eigene Persönlichkeit von den Stimmen zu unterscheiden, die er fortan regelmäßig hörte. Weitere sieben Tage dauerte es, bis sich seine Gabe manifestierte. Oder vielmehr seine Gaben – er musste mittlerweile von ihnen in der Mehrzahl reden. Zunächst war Mersbeck in der Lage gewesen, die Zeit zu verlangsamen. Während alles um ihn herum aussah, als hätte man es in Aspik eingelegt, konnte er sich mit normaler Geschwindigkeit bewegen.
Die zweite Fähigkeit war von einer anderen, grundlegenderen Qualität. Im Kollektiv nannte man so etwas eine Schlüsselgabe. Es gab nicht viele, bei denen sie sich so deutlich ausdifferenzierte. Begarell war einer der Eskatay, der mit seiner Fähigkeit zur Heilung solch eine Schlüsselgabe beherrschte. Swann, der Meister der Telepathie und Manipulation, hatte auch zu diesem erlauchten Kreis gehört. Mersbecks Schlüsselgabe war hingegen etwas ganz Besonderes. Nachdem er die Infektion und die damit einhergehenden Veränderungen überstanden hatte, stieg sein Intelligenzquotient stetig an. War er vorher nur ein exzellenter Biologe gewesen, hatte er inzwischen ebenso geniale Fähigkeiten auf den Gebieten der Mathematik und Physik entwickelt. Ein großer Teil der Instrumente, die in den verschiedenen wissenschaftlichen Stationen entwickelt wurden, beruhten aufseinen Ideen. Dazu gehörte eine polynominale Rechenmaschine, ein Gaschromatograf zur Analyse von flüchtigen Stoffgemischen und ein Rotationsverdampfer – alles Geräte, die mit der Delatour-Kraft aus dem von Wissdorn nachgebauten Generator versorgt wurden. Doch selbst mit all diesen Hilfsmitteln war es ihm nicht gelungen, das Wesen dieser Blume zu ergründen, die sein Leben so nachhaltig verändert hatte.
Als er zum ersten Mal ein Eskaton unter dem Mikroskop untersuchte, war er überrascht gewesen, denn die äußere Form dieses blumenartigen Gebildes setzte sich aus einer unendlichen Zahl selbstähnlicher Elemente zusammen. Bei der Vergrößerung dieser Objekte hatte er festgestellt, dass sie wiederum aus weiteren Bausteinen zusammengesetzt waren, die die übergeordnete Form im verkleinerten Maßstab identisch widerspiegelten. Aber egal wie sehr er das Objekt vergrößerte, die ursprüngliche Struktur blieb immer erhalten, ohne dabei jemals zu einem Ende zu kommen. Auch die Sporen, die solch ein Eskaton produzierte, wiesen dieselbe perfekte, unendliche Selbstähnlichkeit auf. Mersbeck hatte die Welt bisher immer als einen Ort betrachtet, an dem die Funktion die Form bestimmte. Dass sich das Eskaton diesem Prinzip so erfolgreich entzog, ließ ihn schier verzweifeln.
Mersbeck schob den Wagen hinein und packte die Bleikiste an den Griffen. In seinem Rücken knackte es vernehmlich, als er sie anhob und auf den Boden poltern ließ. Dieser Tresorraum konnte nur eine Übergangslösung sein, bis sie ein Labor eingerichtet hatten, in dem sich das strahlende Artefakt gefahrlos untersuchen ließ.
Er wollte gerade gehen, als er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrnahm. Nein, es war keine Bewegung, es war ein Licht, das sowohl vom Behälter des Eskaton als auch von der Bleikiste ausging und durch deren Ritzen drang. Leuchtende Staubpartikel wanderten träge durch die Luft hinauf zu dem Podest.
Mersbeck erstarrte in seiner Bewegung, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Hastig öffnete er den Holzbehälter und klappte die Seitenteile herunter.
Das Eskaton
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