Morland 02 - Die Blume des Bösen
genug. Das Ding, das uns verfolgt, ist dasselbe, das diesen Oleg getötet hat. Eigentlich meidet es den toten Wald. Die Koroba bringt nicht nur Menschen um, sondern jedes andere Lebewesen auch. Es stirbt. Aber noch ist es gefährlich. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber ich kann es spüren.«
Hakon sah seinen Freund ernst an.
»York, wenn es uns findet, wird es uns töten. Dieses Wesen hat bereits vor Tagen unsere Witterung aufgenommen. Und es kommt immer näher.«
***
Es war Dienstag, und die Lage in den Straßen von Lorick hatte sich ein wenig entspannt. Zwar herrschte nach Sonnenuntergang noch immer eine Ausgangssperre, aber da es um diese Jahreszeit ohnehin erst relativ spät dunkel wurde, waren die von der Regierung verfügten Beschränkungen allenfalls ärgerlich, jedoch kein großes Hindernis. Die Menschen gingen wieder ihren Beschäftigungen nach. Es bestand laut der überall angeschlagenen amtlichen Bekanntmachungen sogar eine Pflicht zur Arbeit. Wer unentschuldigt fernblieb, hatte mit drakonischen Strafen zu rechnen.
Tess verließ am späten Nachmittag Noras Laden und machte sich auf den Weg nach Schieringsholm, einem Viertel am anderen Ende der Stadt, das sie nur mit dem Bus erreichen konnte. Sie verkleidete sich diesmal nicht als Junge, da Egmont mit Sicherheit ihre Beschreibung weitergegeben hatte. Der gefälschte Ausweis, den ihr Nora gegeben hatte, wies sie als eine Elizaveta Blavatsky aus, die in Lorick ihre Großmutter besuchte. Im Prinzip stimmten alle Angaben in dem Dokument: Noras Adresse in Süderborg, das Alter und selbst die Größe. Da Tess erst dreizehn war, benötigte sie auch keine Ambrotypie für den Ausweis, was die Sache erleichtert hatte. Einen Stapel Blankoformulare, eine Typenmaschine zum Ausfüllen sowie das obligatorische Dienstsiegel der Meldebehörde hatte Nora in einem Küchenschrank versteckt. Tess hatte die alte Frau nicht gefragt, wie sie an derlei Dinge gekommen war, vermutete aber, dass die Armeeder Morgenröte entweder hervorragende Beziehungen zur Stadtverwaltung oder aber einen begnadeten Dieb in ihren Reihen hatte. Zusätzlich hatte sie noch fünfzig Kronen eingesteckt. Die Vorräte gingen zur Neige, und Tess hatte den Auftrag erhalten, auf dem Rückweg etwas einzukaufen. Als wäre ihre Reise nach Schieringsholm ein ganz normaler Einkaufsbummel, wie Tess belustigt festgestellt hatte.
Schieringsholm war ein Ort, an dem sich wegen der niedrigen Mieten vor allem Studenten niederließen, die in der nahe liegenden Universität von Lorick ihre Vorlesungen besuchten. Es war ein lebendiges Viertel, in dem zu normalen Zeiten bis spät in die Nacht das Leben pulsierte. Diese Leichtigkeit war selbst jetzt noch zu spüren, als Tess den Bus an der Pauletstraße verließ, wo an einer Ecke die Gastwirtschaft Zum fassbeinigen Rappen stand, eine der vielen typischen Bierschwemmen dieses Viertels. Vor knapp vierzehn Tagen hatte Tess in Henrikssons Auftrag eine verschlüsselte Anzeige für die Mitglieder der Armee der Morgenröte aufgegeben, in der Ort und Zeitpunkt der Treffen angegeben waren: im Fassbeinigen Rappen , jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag. Sie öffnete die Tür und betrat die Schankstube.
Um diese Tageszeit waren die Kneipen der Stadt nicht besonders gut besucht. Die Mittagspause war seit zwei Stunden auch für die letzten Nachzügler beendet und die Teestunde war noch nicht angebrochen.
Hinter dem Tresen stand eine junge Frau, das rote Haar aufgetürmt zu einer kunstvollen Steckfrisur. Sie war eine Spur zu stark geschminkt, woraus Tess schloss, dass die Mehrzahl der Gäste männlich war. Ihr Kleid war dunkel undpraktisch geschnitten. Sie polierte gerade die frisch gespülten Gläser und schaute auf, als sie Tess bemerkte.
»Na, Liebchen? Wen suchst du?«
»Ich bin wegen der Anzeige hier.«
»Ah, der Liederkranz. Letzten Donnerstag waren einige da. Haben aber nicht viel gesungen.« Die Wirtin stellte das saubere Glas zurück in das Regal. »Du bist ohnehin ein wenig früh.«
Tess dachte einen Moment nach. »Kann ich noch etwas zu essen bekommen?«
»Sicher. Die Mittagskarte gilt noch.« Die Frau zeigte auf eine mit Kreide beschriebene Tafel, auf der vier Gerichte angeboten wurden.
»Ich hätte gerne das Hühnchen.«
Die Wirtin nickte. »Was willst du dazu haben? Du hast die freie Auswahl: Gemüse, Reis mit Soße oder einen Auflauf.«
»Reis mit Soße klingt gut. Dazu bitte ein Glas Wasser.«
Die Wirtin lächelte und wischte sich die Hände
Weitere Kostenlose Bücher