Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
in wesentlichen Dingen. Die Sowjetunion existierte nicht mehr«, flüsterte sie.
»Das ist absurd!«, antwortete ich.
»Nein, hör mir zu! Diese Welt war real. In ihr hatten die Amerikaner etwas gewonnen, was jeder den Kalten Krieg nannte«, flüsterte Nora. »So geht es jede Nacht. Ich habe Visionen von Welten, die der unseren ähnlich sind, in denen aber die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen hat.«
Ich blickte sie an. Zuerst glaubte ich, Nora würde sich über mich lustig machen. Doch dann sah ich die Angst in ihren Augen.
»Andre, ich fürchte, den Verstand zu verlieren!«, sagte sie verzweifelt. »Was soll ich tun?«
Ich nahm sie in den Arm und drückte sie fest an mich. »Auf Guselkas Bitte eingehen. Vielleicht erfahren wir so, was mit uns geschehen ist.«
***
»Der Riss geht tief, selbst durch die Reihen der Armee«, sagte Halldor, als die Zellentür hinter ihnen zugeworfen und verriegelt wurde.
»Es wird sich noch herausstellen, ob wir davon profitieren können«, sagte Elverum. »Wenigstens hat man uns noch nicht erschossen.«
Lennart hatte sich gerade wieder auf seinen Eimer gesetzt und den Kopf auf die Hände gestützt, als die kleine, in der Tür eingelassene Klappe geöffnet wurde.
»Alle an die Wand!«, rief eine Stimme.
Der Junge mit dem steifen Bein betrat die Zelle. Er stellte drei Essgeschirre, einen Krug mit Wasser und einen Laib Brot von einem Rollwagen auf den kleinen Tisch, der gegenüber der Pritsche an der Wand befestigt war. Ohne den Blick zu heben, schlurfte er wieder hinaus. Die Tür fiel wieder ins Schloss.
Lennart verteilte die Essgeschirre und hob von seinem vorsichtig den Deckel. Er rümpfte die Nase, probierte einen Schluck von der Suppe und spie ihn sofort wieder aus. Auch Elverum verzog angewidert das Gesicht. Nur Halldor leerte ohne ein Zeichen des Unbehagens seinen Teller und stellte ihn zurück auf den Tisch.
»Wie kann man das essen?«, fragte Elverum entsetzt. »Das schmeckt, als hätte man einen Spüllappen ausgekocht.«
»Warum sollte man es nicht essen?«, entgegnete der Wargebruder stoisch. »Wir werden so bald nichts Besseres bekommen.«
Lennart brach das Brot – und erstarrte.
»Was ist? Hat man Kakerlaken mitgebacken?«, fragte Elverum grimmig.
Lennart hielt ein Stück Papier in die Höhe. »Wir haben Post bekommen.« Er rollte die Nachricht auseinander. Die Schrift war ungelenk, die Buchstaben wirkten mühevoll gemalt, so als hätte der Verfasser der Botschaft keine Übung im Umgang mit einem Stift.
Lennart kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Das kann ich beim besten Willen nicht lesen.«
Halldor nahm ihm den Zettel aus der Hand und studierte ihn.
»Der Bursche, der uns das Essen gebracht hat, will uns zur Flucht verhelfen«, sagte er und klang dabei ehrlich überrascht. »Wenn er das Geschirr abholt, sollen wir ihn nach der Uhrzeit fragen. Dann weiß er, dass wir mitmachen.«
Die drei Männer schauten einander an.
»Ist das eine Falle?«, fragte Lennart unsicher.
»Wenn sie uns erschießen wollen, können sie das einfacher haben«, sagte Elverum.
»Du kennst dich mit so etwas wohl aus«, fragte Halldor und blickte den Polizisten verächtlich an.
Elverum, der bis dahin auf seiner Pritsche gesessen und widerwillig seine dünne Suppe geschlürft hatte, stand langsam auf und stellte sich so dicht vor Halldor, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Nein. Wir haben es bei den Vernehmungen immer wie einen Unfall aussehen lassen«, antwortete er kühl. »Mit Wargebrüdern und Todskollen hatten wir den meisten Spaß. Wir wussten, ihr könnt was vertragen. Und ihr habt uns nie enttäuscht.«
Halldor bleckte die Zähne. Wie bei einem Hund war nicht zu erkennen, ob er grinste oder gleich zubeißen wollte. Schritte näherten sich. Die Beobachtungsluke der Tür wurde geöffnet.
»Stellt euch an die Wand!«, rief die Stimme.
Der Junge schlurfte herein und sammelte unter den wachsamen Augen zweier Wärter das Geschirr wieder ein.
»Sag mal, weißt du, wie spät es ist?«, fragte Lennart.
Für einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Moment hielt der Junge mit der Arbeit inne. Lennart konnte sehen, wie ein verstohlenes Lächeln über sein Gesicht huschte.
»He! Wer hat dir gesagt, dass du das Maul aufmachen sollst?«, fuhr ihn eine der Wachen an. Lennart hob entschuldigend die Hände und trat einen Schritt zurück. Der Knüppel, den der Wachhabende die ganze Zeit in der Hand hielt, sauste mit aller Macht auf seine Schulter
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