Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
Viele hielten Yulias Worte für wahr. Was sie sagte, ergab zwar keinen Sinn, aber sprachen Engel nicht immer in Zungen? Ein Polizist – und noch dazu glühender Atheist– sah die öffentliche Sicherheit gefährdet und schoss diesen Boten Gottes einfach vom Himmel. So war Yulia Plakinowa der erste Eskatay, der eines gewaltsamen Todes starb. Und auch der Polizist sollte seinen Frevel nicht lange überleben. Ein eifernder Mob knüpfte ihn am nächsten Laternenpfahl auf.
7. Juli 2003
Die religiösen Unruhen nehmen kein Ende. Einheiten des Innenministeriums sorgen in Leningrad, Moskau, Riga, Wilna und Tallinn für Ruhe. Im Baltikum, wo es ohnehin schon seit Langem brodelt, mehren sich die Stimmen, welche die Unabhängigkeit fordern. Doch das ist nichts gegen die Probleme, die Präsident Ruzkoi mit der orthodoxen Kirche hat. Obwohl es einen Staatsvertrag gibt, glaubt Patriarch Wladimir II., nun alle Absprachen über Bord werfen zu können, denn die Ankunft des Erlösers scheint in seinen Augen bevorzustehen.
9. Juli 2003
Die Unzufriedenheit unter den neuen Eskatay nimmt zu. Noch sind sie nicht stark genug, um sich wirklich gegen Guselka durchzusetzen, aber ich spüre, dass er Angst hat. Er ahnt, dass wir untereinander auf eine Art kommunizieren, die er nicht kontrollieren kann.
Noras Konzept vom Kollektiv geht nicht auf. Wir sind keine Gemeinschaft von Gleichen. Wir verfolgen zwar alle dieselben Ziele, doch sind die Persönlichkeiten der Eskatay genauso verschieden wie die normaler Menschen. Was hat sich schon großartig verändert? Gut, einige können fliegen, Gegenstände mit der Kraft ihrer Gedanken bewegen oder über den Kreml springen. Aber ansonsten sind wir immer noch dieselben armen Schweine, die wir vor der Verwandlung waren.
Ilja Woronesch. Alleine wenn ich den Namen höre, balle ich innerlich die Faust. Typen wie ihn sollte man nicht zum Militärdienst einziehen. Guselka hat einen unverzeihlichen Fehler begangen: Er hat es versäumt, vor dem Experiment die seelische Verfassung seiner angehenden Eskatay zu prüfen. Sonst wäre ihm aufgefallen, dass Ilja unter einer Persönlichkeitsstörung leidet.
Die Rote Armee war noch nie der Ort gewesen, an dem man besonders gut für die schwächeren Mitglieder unserer sozialistischen Gesellschaft gesorgt hat. Ilja muss das wohl am eigenen Leib erfahren haben, denn sein Ausbilder ließ keine Gelegenheit aus, ihn vor versammelter Mannschaft zu demütigen. Jetzt sieht der so Geschundene die Stunde seiner Rache gekommen. Er weiß sehr genau, dass die Menschen, die ihn gequält haben, ihn heute fürchten müssen. Er versteigt sich nicht nur in einen absurden Größenwahn, sondern hat sich auch zum Sprecher aller Eskatay ernannt. Nora und mich kann er nicht beeindrucken. Eigentlich ist er ein armes Würstchen, doch wir können nicht leugnen, dass er eine ernste Gefahr darstellt.
Wir sollten einen Rat der Eskatay einrichten , meldete er sich heute im Nexus zu Wort.
Du vergisst, wir sind ein Geheimprojekt , sagte Nora. Geheimprojekte haben keine Interessenvertretung.
Dann sollten wir das ändern , erwiderte Ilja.
Der Kerl ist erst seit einer Woche ein Eskatay und geht mir schon auf die Nerven. Gut , sagte ich. Was forderst du?
Erst einmal besseres Essen . Zustimmendes Gemurmel der anderen Eskatay. Neue, bessere Unterkünfte. Keine Achtbettzimmer mehr. Wieder zustimmendes Gemurmel.
Das ist menschenunwürdig, sagte ein anderer Eskatay.
Ihr seid bei der Armee und nicht in einem Ferienlager. Schon vergessen?, fragte ich zynisch. Wie wäre es denn mit echten Forderungen?
Ich spürte, wie Nora sich warnend bemerkbar machte.
Gut, wie steht es damit?, fragte Ilja. Wir werden hier wie Gegenstände behandelt, die dem Staat gehören. Das kann nicht sein, denn wir sind freie Sowjetbürger, mit allen Rechten, die uns die Verfassung gewährt .
Gewöhnt euch daran, dass wir keine normalen Menschen mehr sind. Wenn die Welt von unserer Existenz erfährt, werden schlechtes Essen und unzumutbare Unterkünfte unser kleinstes Problem sein, sagte Nora.
Schweigen. Stille. Herrlich. Dieses ständige Gerede in meinem Kopf ging mir langsam auf die Nerven.
Trotzdem können sie uns nicht hier einsperren, beharrte Ilja. Wir haben Rechte .
Zustimmendes Gemurmel.
Dann klag sie ein, sagte ich. Geh vor Gericht und klag sie ein.
Nein, wir werden das anders machen , sagte Ilja. Wir lassen Guselka die Wahl: Entweder wird er uns der Öffentlichkeit vorstellen oder wir nehmen das selbst in die
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