Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
Hand.
Ilja, was willst du damit erreichen? Nora war jetzt richtig wütend. Guselka würde uns ein normales Leben ermöglichen, wenn wir uns wie normale Menschen verhielten. Was passiert, wenn wir unsere Fähigkeiten publik machen, hast du ja bei Yulia gesehen.
Sie können uns nicht einfach abschießen, meldete sich jetzt eine andere Stimme zu Wort. Es war Oksana Allelujewa. Noch so eine, die die Verwandlung nicht unbeschadet an Geist und Seele überlebt hat. Im Gegensatz zu Nora, die den ganzen Tag verschlafen kann, leidet Oksana an Schlaflosigkeit. Und das sieht man ihr an. Sie ist ein irrlichterndes Wesen mit tief liegenden, fieberglühenden Augen. Ich bin Telepathin, schon vergessen?
Oksanas Selbstüberschätzung verschlägt mir die Sprache. Sie will nicht sehen, dass es Mittel und Wege gibt, uns zu töten, die ihr verborgen bleiben. Dazu muss man nur automatisierte Waffen einsetzen. Ich weiß, dass die Armee mit Drohnen experimentiert. Das sind unbemannte Flugzeuge, die sich selbst ihr Ziel suchen.
Dennoch erkenne ich Guselkas Dilemma. Er muss ein Vertrauensverhältnis zu uns aufbauen, schließlich kann er uns nicht wegen jeder Kleinigkeit standrechtlich exekutieren. Er kann uns auch nicht für immer und ewig wegsperren. Also muss er uns gehen lassen und kann dabei nur hoffen, dass das Geheimnis der Eskatay möglichst lange eines bleibt.
12. Juli 2003
Guselka scheint einen sechsten Sinn für Probleme mit uns entwickelt zu haben und tritt die Flucht nach vorne an. Zusammen mit allen Eskatay (und natürlich in Absprache mit dem Politbüro; ich kann mir vorstellen, wie Ruzkoi und Konsorten sich gewunden haben müssen) hat er die Welt zu einer Pressekonferenz eingeladen, um unsere Existenz zu enthüllen. Nun, was soll ich sagen: Die Welt kam und staunte.
Das Expocenter in Moskau, das für diese Veranstaltung gemietet wurde, war bis auf den letzten Platz gefüllt, als wir die Bühne betraten.
Wir durften alles erzählen, nur ein Thema war Tabu: woher wir unsere Kräfte haben. Offiziell waren wir ein Produkt gentechnischer Experimente. Das war natürlich Quatsch, doch die Wahrheit war schließlich noch absurder.
Guselka hatte die ganze Veranstaltung ohne jedes militärische Beiwerk inszeniert. Niemand trug eine Uniform, keine Fahne schmückte die Bühne. Einzig der sowjetische Ährenkranz hing über uns vor einem roten Vorhang.
Guselka begrüßte die internationale Presse ohne die üblichen Phrasen, die bei solchen Gelegenheiten von den Partei-Apparatschiks abgesondert wurden. Er war charmant und witzig und redete nicht um den heißen Brei herum.
Der Einzige, der das Spiel nicht mitmachte, war Ilja. Er fiel Guselka ständig ins Wort und führte sich auch sonst auf, als stünde er im Mittelpunkt dieser Show. Das wäre alles nicht so tragisch gewesen, wenn es nicht ein so bezeichnendes Licht auf Guselka geworfen hätte. Alle erkannten sofort, dass er und die Regierung uns eigentlich nicht im Griff hatten. Diese Psychopathen Ilja Woronesch und Oksana Allelujewa vermittelten ein verheerendes Bild von uns. Als dann Ilja auch noch ungefragt eine Kostprobe seiner Fähigkeiten gab, sah ich an Guselkas bleichem Gesicht, dass eine Grenze überschritten war. Ilja stand einfach auf, verwandelte sich in eine menschliche Fackel und sprang hinauf in die Verstrebung der Dachkonstruktion. Ich hätte schwören können, dass er einen Streifen glühender Luft wie ein Leuchtspurprojektil hinter sich herzog.
Die Menge schrie, Fotoapparate blitzten und Ilja verneigte sich wie ein Hochseilartist in der Zirkuskuppel. Guselka starrte mit eisigem Blick ins Leere. Die Pressekonferenz war beendet, doch Ilja hatte endlich das erhalten, was er schon immer eingefordert hatte: ungeteilte Aufmerksamkeit.
13. Juli 2003
Nur mit Mühe haben wir Guselkas Absetzung verhindern können. Nora und ich haben das Politbüro davon überzeugt, dass die Mehrzahl der Eskatay hinter ihm steht. Die anderen drei oder vier würden wir innerhalb der Gruppe zur Rechenschaft ziehen.
Mittlerweile befindet sich die Welt in einem Aufruhr, der nur noch durch die Landung Außerirdischer übertroffen werden kann. Der Völkerbund tritt zu einer Sondersitzung zusammen, um die neueste Entwicklung in der Sowjetunion zu erörtern. Es sollte mich wundern, wenn sie einen einstimmigen Beschluss fassen. Die Sowjetunion hat immer noch ein Vetorecht. Die USA sind schrecklich nervös und haben ihre Abwehrbereitschaft gleich um zwei Stufen erhöht.
14. Juli 2003
Noch immer
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