Morpheus #2
gehabt, sondern auch ein paar Geheimnisse. Und Nicholsbys letzte Worte an diesem Morgen gingen C. J. nicht aus dem Sinn. Wie eine Off-Stimme kommentierte sie den schrecklichen Film in ihrem Kopf.
Das war, um ihm das Maul zu stopfen.
ZWÖLF
«Es gibt Probleme», sagte Dominicks Stimme durch das Handy.
Es war Montagmorgen und C. J. verließ gerade das Gerichtsgebäude. Die letzten beiden Stunden hatte sie damit verbracht, einen schlecht gelaunten Richter Goldstein davon abzubringen, einem des Mordes Angeklagten Freigang zu gewähren. Ihm wurde vorgeworfen, mit einer Kalaschnikow drei Kollegen umgemäht zu haben, und jetzt wollte er seine sterbende Mutter im Altersheim besuchen.
Den gleichen Antrag stellte er zum dritten Mal in sechs Monaten, und jedes Mal, wenn er abgelehnt wurde, erholte sich seine Mutter plötzlich wieder. C.
J. trat aus dem Richard E. Gerstein Criminal Justice Building und steuerte ihr Wägelchen mit den Akten die Rollstuhlrampe hinunter.
«Keine schöne Nachricht an einem Montagmorgen», sagte sie, während sie in einer Hand ihre gewaltige Aktentasche balancierte und mit der anderen den Wagen hinter sich herzog, das Telefon zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt. «Wo bist du?
Haben sie dich endlich nach Hause geschickt?»
«Nein, noch nicht. Ich bin immer noch unten in Miami Beach. Black, Fulton und ich hatten gerade ein Meeting. Bis jetzt soll das FDLE im Mordfall Chavez nur aushelfen… Besser gesagt, ich soll aushelfen. Aber wenn nicht bald ein paar Spuren auftauchen, stellen sie eine Task-Force zusammen.
Ich fahre so in einer Stunde nach Hause, dann hau ich mich erst mal aufs Ohr.»
«Und was für ein Problem gibt es?», fragte sie, während sie die 13. Straße überquerte. Das Graham Building, in dem die Staatsanwaltschaft von Miami-Dade saß, lag auf der anderen Seite, gegen-
über vom Gericht.
«Wir haben gerade Chavez’ Drogenscreening reinbekommen. In Blut und Urin wurde Kokain nachgewiesen. Außerdem hatte er Arteriensklerose, also eine vorzeitige Verhärtung der Adern. Für einen Siebzigjährigen nichts Ungewöhnliches, aber bei einem Burschen Anfang zwanzig deutet das eindeutig auf längerfristigen Kokain- oder Heroin-missbrauch hin.»
«Mist», seufzte C. J. «Er hat also Drogen genommen. Hat das was mit seinem Tod zu tun?»
Nach dem, was sie Samstag früh im Streifenwagen gesehen hatte, bezweifelte sie es.
«Nein. Zu seinem Pech hatte er keinen Herzinfarkt, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde.
Im Gegenteil. Neilson hat noch was rausgefunden.
Chavez’ Lungen waren voller Blut – anscheinend ist der Knabe an seinem eigenen Blut erstickt.»
Joe Neilson war der Gerichtsmediziner, mit dem C. J. häufig zusammenarbeitete. Man mochte ihn ein wenig seltsam nennen, um nicht zu sagen ex-zentrisch, aber er erledigte seine Arbeit immer mit äußerster Umsicht. Manchmal fand er höchst interessante Hinweise. «Wenn ich das richtig verstehe, ist das nicht normal, wenn jemand die Kehle durchgeschnitten bekommt?»
«Als Neilson das Blut in den Lungen entdeckt hat, hat er die Schnitte an der Kehle nochmal untersucht. Erst hatte er angenommen, Halsschlagader, Luftröhre und Drosselvene wären mit einem Schnitt durchtrennt worden. Doch dann wäre der Kerl verblutet, nicht erstickt, man hätte kein Blut in den Lungen gefunden. Als sich Neilson die Wunde näher ansah, entdeckte er, dass es zwei Schnitte waren. Der erste hat nur die Drosselvene und die Luftröhre durchtrennt. Die Drosselvene pumpt das Blut vom Hirn zurück zum Herzen und ist anscheinend langsamer als die Halsschlagader. Wenn sie durchtrennt wird, rinnt das Blut einfach heraus. Im Gegensatz zur Halsschlagader, wo es mächtig spritzt.
Bei Chavez ist das Blut aus der Drosselvene in die Luftröhre gelaufen. Er ist erstickt, nicht verblutet.
Sozusagen in seinem eigenen Blut ertrunken. Zu seinem Pech ist Ersticken der langsamere und un-angenehmere Tod.»
«Könnte es nicht sein, dass der Mörder beim ersten Mal das Grinsen nicht richtig hingekriegt hat und nochmal ansetzen musste?» Grinsen war im Poli-zeijargon das Wort für einen Schnitt durch die Kehle: von einem Ohr zum anderen.
«Vielleicht, aber Neilson ist da anderer Meinung.
Die Tiefe, Breite und Präzision des ersten Schnitts bringen ihn zu der Vermutung, dass die Halsschlagader beim ersten Mal absichtlich verschont blieb.»
C. J. hatte den Vorraum der Staatsanwaltschaft im ersten Stock erreicht und wollte eben ihre Plastikkarte durch den Schlitz
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