Morpheus #2
mehr belastendes Beweismaterial zutage – todsichere Indizien dafür, dass das System funktionierte, dass der Schuldige hinter Gittern saß und nicht davon-käme. Doch wenn C. J. Townsend eins im Leben gelernt hatte, dann die Tatsache, dass die Dinge nicht immer so liefen, wie sie sollten.
Jetzt schloss sie die Augen und versuchte das Bild von William Rupert Bantling zu verdrängen, in jenem heißen, überfüllten Gerichtssaal vor etlichen Kameras und der Elite ihrer Kollegenschaft. Damals, als ihr aufging, dass er mehr war als nur ein Angeklagter. In jenem Gerichtssaal, als sie hörte, wie Bantling wütende Worte an Richter Katz richtete, als sie zusah, wie der Saal in Chaos versank.
Sie war wie gelähmt gewesen, als in ihrem Kopf alle Alarmsirenen losgingen und sie plötzlich ins Jahr 1988 zurückversetzt worden war: in jene stür-mische Juninacht, in der sie von einem gesichtslo-sen Monster in ihrem eigenen Schlafzimmer brutal vergewaltigt und gefoltert und auf den blutgetränkten Laken hilflos zurückgelassen worden war. Fast wäre sie verblutet. Das Monster hatte sein Gesicht hinter einer Clownsmaske versteckt. Doch seine Stimme hatte er nicht verbergen können – als er ihr die Worte ins Ohr geflüstert hatte, die Worte, die ebenso tiefe Wunden hinterlassen hatten wie sein Messer.
Chloe Larson hieß sie damals, als sie diese Stimme zum ersten Mal gehört hatte. Sie war jung und hübsch und lebenslustig gewesen, vierundzwanzig Jahre alt und stand kurz vor dem Jura-Examen. Bald würde sie ihre Karriere in einer Kanzlei für Schmerzensgeldklagen beginnen, sich mit einem erfolgreichen, attraktiven Mann verloben, ein wunderbar normales Leben führen. Doch ihre Zu-kunftspläne hatten jäh geendet, und Chloe musste hilflos zusehen, wie sich die Welt um sie herum wei-terdrehte, als wäre das Schlimme, das Schreckliche, das Sinnlose nicht passiert. Für sie war die Zeit stehen geblieben, sie steckte fest in diesem schwärzesten Moment ihres Lebens – sie hörte das Prasseln des Regens gegen die Scheibe und spürte die eiskalte Angst, als ein Verrückter mit blutrotem Clownsgrinsen ihr den Bauch und die Brust auf-schlitzte. Man hatte das Monster nie gefasst, und nachdem sie in New York nicht mehr auf die Straße gehen konnte, ohne in Panik auszubrechen, war sie schließlich nach Miami gezogen und hatte versucht, Chloe Larson abzuschütteln. Doch auch wenn sie den Namen Townsend annahm und die Landschaft hier unten grüner war, hatte sie bald eingesehen, dass sie die Erinnerungen nicht zurücklassen konnte.
Und dann hatte in jenem Gerichtssaal vor drei Jahren die Vergangenheit die Gegenwart eingeholt.
Die Gerechtigkeit hatte sich einmal im Kreis gedreht und war plötzlich wieder in Reichweite. Gerechtigkeit nicht für sich, sondern für elf schöne, junge Frauen, die in ihren dunklen Gräbern zu C. J. flehten. Der Fall gehörte ihr.
Nach all den Jahren als Staatsanwältin hätte sie wissen müssen, dass wasserdichte Fälle nie wasserdicht waren. Sogar die Fälle mit den tausend Augenzeugen, den zwölfseitigen Geständnissen und ganzen Eimern voller DNA konnten zur Zitter-partie werden, und schon bei der Urteilsverkündung war klar, dass man es mit jahrelangen Berufungen zu tun bekommen würde. Auch C. J.s wasserdichter Fall war, wie sie bald feststellte, alles andere als wasserdicht. Und es schien, als würde die Gerechtigkeit wieder einmal den Kürzeren ziehen.
In jedem Strafprozess – ob Drogenbesitz, Diebstahl, Raubüberfall – hatten Verfahrensfehler rechtliche Konsequenzen. Wenn Beweismaterial zurück-
gehalten wurde, Berichte unterschlagen, den Geschworenen Zeugen vorenthalten wurden. Manchmal führte der vierte Zusatzartikel der Verfassung zum Schutz der Rechte des Angeklagten dazu, dass Schuldige freigelassen werden mussten. Doch im normalen Strafprozess hatte ein solcher Fall keine lebensbedrohlichen Folgen. In diesem speziellen Fall jedoch hätte ein Fehler einen tödlichen Ausgang haben können: Ein Wahnsinniger wäre für immer auf freiem Fuß. Und das war die Konsequenz, die C. J. Townsend – stellvertretende Leiterin der Abteilung für Kapitalverbrechen, knallharte Staatsanwältin und Verbrechensopfer in einer Person – nicht zulassen konnte.
Als C. J. am Küchentisch saß, stürzten die Erinnerungen über sie herein. Wie ein Dominostein den anderen riss ein Bild das nächste mit sich, bis das ganze grausame Panorama vor ihr lag.
Der junge Victor Chavez hatte nicht nur eine Menge Feinde
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