Morpheus #2
Und sie ging morgens aus dem Haus, bevor er aufwach-
te.
«Nein, nein», er schüttelte den Kopf. «Das ist nicht die Antwort. Es geht schon seit einer Weile so.
Ich habe versucht, dich zu erreichen. Ich wollte mit dir sprechen. Ich bin hier.» Er schwieg, eine vielsagende Stille trat ein.
«Es tut mir Leid», sagte sie endlich. Sie konnte ihm nicht von den Gedanken erzählen, die sie auf-fraßen, seit sie in der Nacht zum Montag Sonny Lindemans Leiche gesehen hatte. Auch in einer wahren Liebe hat man Geheimnisse voreinander, versuchte sie sich zu beruhigen. Die Verantwortung war schon schwer genug für einen. Sie durfte damit nicht auch noch Dominick und seine Karriere belasten, nur um sich die eigene Last zu erleichtern.
Und dann gab es noch die unangenehme Möglichkeit, dass er die Sache anders sah. Dass seine Skrupel größer waren als ihre und dass er sich gezwungen sah, die Behörden in Kenntnis zu setzen über das, was nie ans Licht kommen durfte.
«Warum? Was ist mit dir los?» Er stützte sich auf den Tisch, suchte in ihren Augen nach einer Antwort. «Ist es der Prozess? Ist es Morpheus? Ich muss es wissen, C. J. Du bist mit deinen Gedanken sonstwo, und ich komme einfach nicht zu dir durch.»
«Dominick, seit Morpheus aufgetaucht ist, arbei-test du sechzehn Stunden am Tag. Wann und wo willst du zu mir durchkommen?» Sie hielt inne, dann fuhr sie fort. «Es tut mir Leid», sagte sie noch einmal. «Dieser Prozess nimmt mich seit einem Monat in Beschlag. Du hattest zu tun, ich hatte zu tun. Ab jetzt bemühen wir uns einfach beide mehr, gut?»
Sie sah ihm in die Augen, doch sein fragender Blick suchte immer noch nach einer Antwort.
Manchmal konnte sie sich vorstellen, wie es sich anfühlte, von ihm verhört zu werden. Er übersah nichts.
Statt sich zu setzen, kam er um den Tisch. Er drehte ihren Stuhl zu sich, nahm ihre Hände, dann zog er sie an sich. Ohne ein weiteres Wort küsste er sie auf den Mund, sein Ziegenbart kitzelte vertraut, tröstlich. Und doch, seine Nähe – die körperliche, die emotionale – machte ihr in diesem Moment Angst.
«Mir tut es auch Leid», sagte er schließlich und drückte sie. «Es war hart. Diese Morde. Nicht nur wegen der Arbeit.» Er wurde leiser, als spräche er zu sich selbst. «Ich habe das Gefühl, ich schulde ihnen etwas. Mehr als der Rest der Task-Force. Ich muss den Verantwortlichen finden, und bis jetzt bin ich nicht weit gekommen. Sie waren im Dienst, Herrgott nochmal. Sie hatten ihre verdammte Uniform an…»
«Du wirst ihn finden», sagte sie leise.
C. J. wusste, dass Polizist zu sein für Dominick nicht einfach nur ein Job war. Er sprach zwar nicht oft darüber, aber sie wusste, dass fast jeder Mann in seiner Familie bei der Polizei gewesen war. Seine Onkel und Cousins waren beim New York Police Department, sein Schwager war Detective beim Nassau County P.D. auf Long Island. Sein Großva-ter war in der Bronx Polizist gewesen, und sein Vater war zwanzig Jahre auf Streife gegangen. Sie hätte merken müssen, wie persönlich Dominick diese Morde nahm, doch sie hatte nur an sich gedacht.
Jetzt hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen.
«Ich hätte offen zu dir sein sollen», sagte er.
«Dieser Fall nimmt mich mit. Und wenn ich dann die Hand nach dir ausstrecke, bist du nicht da.»
Sie hörte, wie seine Stimme stockte. Dominick war so oft für sie da gewesen, hatte ihr geholfen, mit dem seelischen Ballast fertig zu werden, den sie mit sich herumschleppte. Jetzt brauchte er sie, und sie ließ ihn im Stich. Sie hatte seine wachsende Verzweiflung nicht gespürt, weil sie ihm ausgewichen war, ihn von sich gestoßen hatte. Weil sie, im Gegensatz zu ihm, niemals ganz offen sein konnte.
«Weißt du», sagte sie leise, «du hast Recht.
Richter Penney hat mich ganz schön beansprucht.
Und dann, am Montag…» Sie sah zu Boden. «Es tut mir Leid, Baby. Ich hätte früher nach Hause kommen sollen. Ich hätte -»
Doch er schnitt ihr das Wort ab. Er beugte sich vor und küsste sie. Diesmal war es ein langer, sinn-licher Kuss. Sie spürte seine Finger auf ihrer Seidenbluse. Er legte ihr die Hand in den Nacken und zog sie näher an sich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sein Atem war warm auf ihrer Wange, und dann trafen sich ihre Zungen. Er schmeckte nach Bier, süß, nicht unangenehm. Sie schlang die Arme um ihn, streichelte seinen festen Rücken und drückte sich an ihn. Obwohl er zweiundvierzig war, war sein Körper noch perfekt
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