Morpheus #2
Strafprozessordnung des Staates Florida so genannt. Der letzte legale Strohhalm, zumindest auf Landesebe-
ne, an den sich Bantling noch klammern konnte. C.
J. zählte im Kopf die Monate und Tage nach, um sicherzugehen, dass die Zahlen stimmten. «Noch-mal Berufung? Er hat doch schon alles versucht, Jerry. Seine Verurteilung und das Strafmaß wurden 2001 endgültig festgesetzt. Seine Zeit ist um. Er ist zu spät für 3.851 – das Gesetz ist eindeutig in diesem Fall.»
«Glauben Sie wirklich, ich würde Sie bitten, Ihren Urlaub abzubrechen, wenn es so einfach wäre, C.
J.? Rose kennt die Berufungsbestimmungen wie ihre Westentasche. Sie sagt, dass es hier ein echtes Problem gibt.»
«Was zur Hölle ist denn das Problem? Ich kenne die Berufungsbestimmungen auch, Jerry. Verfah-rensrechtlich kann er nichts mehr machen -»
«Er sagt, Sie hätten Beweismittel zurückgehalten. Er will sowohl das Urteil als auch das Strafmaß anfechten.»
Sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte.
Verzweifelt versuchte sie, ihrer Stimme einen einigermaßen gelassenen Ton zu geben. «Das sagen sie doch alle, Jerry. Das ist die Standardausrede.
Das Gleiche hat er bei seinem Antrag auf Neuverhandlung und bei seiner letzten Berufung auch schon versucht, und es hat nicht funktioniert. Für mich klingt das nicht nach neuen Fakten, die von ihm und seinem Rechtsbeistand angeblich nicht vorher präsentiert werden konnten.» Wörtlich aus dem Gesetzbuch.
«Neil Mann vertritt ihn bei der Berufung. Er hat dem Antrag eine eidesstattliche Versicherung von Lourdes Rubio beigelegt, in der sie aussagt, sie ha-
be ihrem Mandanten Beweismittel vorenthalten. Sie habe mit Ihnen gemeinsame Sache gemacht. Neil Mann behauptet, es gebe da ein gewisses Tonband. Ein Anruf bei der Polizei. Das soll das neue Beweisstück sein.»
C. J. war sprachlos. Absolut sprachlos. Sie wollte das Telefon hinwerfen und wegrennen, doch ihre Arme und Beine waren wie gelähmt.
«Sie müssen darauf reagieren, C. J. Und Richter Chaskel will den Fall noch diese Woche angehen.
Er hat schon eine Anhörung angesetzt, um festzu-stellen, ob er eine neue Beweisaufnahme anordnen muss.»
«Kann Rose das nicht -»
«Nein, C. J. Wenn diese Sache nicht richtig an-gepackt wird, spaziert der Kerl ungehindert aus dem Staatsgefängnis. Rose’ Verurteilungen gehen nach der Williams Rule sämtlich auf Ihre Beweise zurück.
Alles hängt von der von Ihnen ausgesprochenen Verurteilung ab. Wenn die kippt, kippen auch die anderen Schuldsprüche.» Ganz zu schweigen davon, dass Wahljahr war, und wenn William Bantling
– der berüchtigtste Serienmörder Floridas seit Ted Bundy – aus dem Gefängnis kam, konnte sich Tigler von seinem Posten und seiner politischen Zukunft verabschieden.
Das Williams Rule. Normalerweise konnten frühere Verbrechen und Taten vor Gericht nicht gegen den Angeklagten verwendet werden, damit die Geschworenen nicht beeinflusst wurden, frei nach dem Motto: Er ist es einmal gewesen, dann muss er es diesmal wieder gewesen sein. Und obwohl es frustrierend war, der Jury ein dreiseitiges Haftstrafenre-
gister vorzuenthalten, wenn der Kerl zum vierzehn-ten Mal wegen Einbruchs vor dem Richter stand, leuchtete C. J. der Sinn des Gesetzes ein. Allerdings gab es eine Ausnahme: das Williams Rule. In Florida werden vorausgegangene Verurteilungen und die Indizien früherer Verbrechen und Taten dann als zulässig erachtet, wenn sie dazu dienen, in einem neuen Fall die Identität des Angeklagten auf-zuzeigen, seine Absicht, seine Kenntnisse, den Modus Operandi, das Motiv, die Gelegenheit oder das kriminelle Muster.
Bantlings Verurteilung für den Mord an Anna Prado und die dazugehörigen Fakten waren damit per Williams Rule als Beweismittel in Rose Harris’
Prozess später im selben Sommer zulässig, als die zehn anderen Morde verhandelt wurden. Die Tö-tungsmethode, das Entfernen der Herzen, die Entführungen, der Opfertyp waren bei allen elf Morden gleich gewesen und damit vor Gericht zulässig als Demonstration des Modus Operandi – der Vorge-hensweise – und der Identität des Täters. In diesem Fall war die Annahme statthaft, dass er, wenn er es einmal gewesen war, es diesmal wieder gewesen sein musste. Das Gesetz unterstützte diese Folgerung sogar.
Doch der kleine Bonus, den ihnen das Gesetz damals gewährte, wurde jetzt zum schwerwiegen-den Problem. Wenn Bantlings Schuldspruch im Fall Prado wegen illegaler Beschaffung von Beweismitteln kippte, dann wären die
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