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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Köpfchen von Geschwüren, und mich widert der Anblick des haarigen Urwalds an, der bis auf die Schenkel reicht und sich in dunkler Linie gefährlich dem abscheulichen Knäuel des Nabels nähert. Sie schaut mich leicht berauscht an, versteht nicht und sieht plötzlich, dass ich gehe.
    Sie fällt mich an wie ein Raubtier.
    «Kostia, wo willst du jetzt hin?», winselt sie, bohrt ihre Fingernägel in meinen Ärmel. «Kuda pajdjosch, Kostia, kuda?»
    Sie ekelt mich an, meine Sala ekelt mich, ich will sie nicht mehr sehen.
    «Ich gehe», knurre ich.
    «Das erlaube ich nicht! Nelsja! Du gehst nicht!», heult sie, hält mich fest, zieht an der Jacke, zerreißt sie fast, und ich kann mich nicht losreißen, öffne schon die Tür, sie, nackt auf den Knien, krallt sich in meine Hosenbeine.
    «Sie werden dich töten, Kostja, töten!», weint sie. «Geh nicht!»
    Ich gebe ihr eins mit der flachen Hand auf die Wange, ein Schlag wie mein eigener Sturz. Salomé auf dem Boden, das kupferne Haar dramatisch auf ihre Schultern und das Parkett wallend, als hätte sie diesen Sturz geübt, nackte Frau, bekleideter Mann, ich gehe.
    «Ich liebe dich, Kostia …», flüstert sie.
    Ich schlage die Tür zu. Im offenen Türspalt gegenüber die Nachbarin, ein nach fremden Dramen lechzendes Weibsstück, für so eine ist die Nachbarschaft meiner Salomé besser als jedes Theaterabonnement, denn hier sind die Tragödien echt.
    «Was glotzt du, altes Fotzenmaul», spucke ich der Alten galant ins Gesicht. Sie verschwindet.
    Ich trete in die Nacht. Jesus.
    Jesus?
    Das sagt man so.
    Nach der Polizeistunde darf ohne Warnung geschossen werden. Sagen sie in der Stadt. Sollen mich erschießen. Nur Jureczek, nur für Jureczek lohnt es, am Leben zu bleiben, nur ihm kann ich lebendig etwas nutzen. Nur ihm. Vielleicht nicht einmal ihm.
    Ich gehe, gehe, in den Ruinen werde ich mich nicht verstecken, nein, auch nicht durch die Nebenstraßen schleichen. Ich gehe den 3 . Mai, biege in die Marszałkowska ab, gehe die Hauptstraßen. Ich schreite. Er schreitet. Warschau, nicht mein Warschau, Warschau durchlöchert, Warschau in Kälte, Dreck und Schneeregen, Warschau vergewaltigt. Warschau der Gräber, der Pferdewagen und Aushänge an den Zäunen, Warschau wie meine Salomé, geohrfeigt, am Boden, Warschau spreizbeinig, mit zottligem Haardickicht.
    Jemand geht mir nach, ich kenne ihn.
     
    Kostek kennt mich, weiß, wer ich bin, dreht sich nicht um. Hat Angst, mich zu sehen, aber er kann mich gar nicht sehen. Ich gehe Konstanty nach, ich, seine einzige Freundin, seine wahre Geliebte. Später, später wird er weggehen, immer geht er am Ende weg und kommt dann immer wieder, mein Bruder, Kamerad, Gefährte.
     
    Ich laufe zu Hela, zu Jureczek, nur rasch zu ihnen, so weit wie möglich weg von Salomé und von dem, das mir folgt, wie ein brüllender Löwe.
    Ich gerate außer Atem, höre auf zu laufen, gehe wieder ruhig.
    Eine Streife kommt mir entgegen. Die aufgesetzten Bajonette drohen dem Himmel, Helme breiten Schatten über die Gesichter und Mäntel. Sie können mich kontrollieren, verhaften, erschießen, was werden sie tun?
    Ich spüre, ich weiß: Der, der hinter mir geht, nähert sich, gleicht seinen Schritt meinem an, als würden wir defilieren, nähert sich, legt mir die Hände auf die Schultern, den Arm über die Schultern, und so gehen wir, meine Linke, seine Linke, meine Rechte, seine Rechte, wie bei einem Kinderspiel, auf Armlänge, und er umgibt mich mit diesen Armen, und wir gehen, er geht direkt auf die Streife zu, direkt auf sie zu, der da hinter mir geht, macht, dass sie vor mir auseinandertreten, vor ihm, stehen bleiben, ich frage mich, ob sie salutieren? Sie salutieren nicht, stehen nur verblüfft da, ich gehe vorbei, der hinter mir geht, verliert sich irgendwo, und ich gehe wieder allein und doch nie allein, einsam, nicht allein.
    Die Tür, ich klingele, warte auf den Concierge, er öffnet, ich gebe ihm fünf Złoty, er grummelt was, ich steige die Treppe hoch, unsere Tür, ich klopfe leise.
    Hela. Sie schaut in meine wie mit der Nadel gestochenen Pupillen. Lässt mich wortlos ein, schließt die Tür, sorgfältig, Schlösser, Riegel, Ketten. Erst dann sagt sie etwas.
    «Du hattest es versprochen. Bis zum Kriegsende.»
    «Der Krieg ist zu Ende», antworte ich stammelnd. «Wir haben verloren.»
    «Man hätte dich verhaften können!»
    Ich drehe mich um, gehe zum Zimmer.
    «Du weckst ihn auf!», protestiert Hela.
    Ich will, muss ihn sehen, das kleine,

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