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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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die grauborstige Wange.
    Der Dicke steht also da, Salomé küsst ihn, und Kostek liegt auf dem Boden und kommt zu sich. Salomé küsst den Dicken, der stößt sie weg, brutal, heftig, so wie er ihn weggestoßen hat, nur dass der Dicke sie nicht ins Gesicht schlägt, er dreht sich um, geht in die Küche und kommt sofort mit einem gewaltigen Hackmesser zurück.
    Und Kostek liegt auf dem Boden wie ein toter Fisch, will sich aufrichten, stützt sich auf die Ellbogen, die weiche Faust im Schlagring gefangen, der Dicke nähert sich, er wird morden.
    «Da werd ich den feinen Herrn kaltmachen für diesen Abbruch», stammelt er mit ostpolnischem Akzent und lächelt widerlich, bleckt das lückenhafte Gebiss.
    Und der auf dem Boden ist so weit ernüchtert, dass er anfängt zu lachen. Er lacht, das ist so furchtbar lustig, furchtbar, dass er sich nicht von den Deutschen hat umbringen lassen, den ganzen September vorsichtig genug war, sich keine Kugel einzufangen, kein Schrapnell und auch nicht das schreckliche Wort Feigling. Und jetzt kommt er zu einer Nutte, und irgendein dicker Lude oder Kunde oder ein gewöhnlicher Apache oder eher Straßenganove bringt ihn mit dem Küchenhackbeil um. Die Panzer haben es nicht geschafft und nicht die Stukas, weder die Herren Mauser, Messerschmitt oder Walther, erst Herr Solingen schafft es.
    Deshalb lacht er, lacht atemlos, aber er lacht.
    Und weint, weil er an Jureczek denkt. An Hela denkt er auch, aber ohne Bedauern: Jetzt wird sie sehen, wie viel sie verloren hat, wie wenig sie ihn zu schätzen wusste. Also doch mit Bedauern, denn er muss ehrlich zugeben, dass Hela so viel dann auch nicht verlieren wird. Den halben Ehemann, einen halben Mann. Wie viele von denen wandern über die Erde? Halbmänner, Halb- oder Pseudokünstler, Halbväter, Halbehemänner, alles halb, zum Verführen reicht es gerade, zum glaubwürdigen Versprechen, aber nicht, um die Versprechen einzuhalten. Also ein halber Mann, genug, damit sie ihn liebgewann, damit er irgendwie diese Stelle für den Mann ausfüllte, die jede Frau in sich trägt: in ihrem Körper, ihrem Herzen, im Kopf und in der Seele, aber nicht genug, als dass da nicht Platz für die Sehnsucht nach etwas geblieben wäre – wonach? Nach etwas mehr, jemandem mehr, jemand Größerem, dem Mehr.
    Ein Halbkünstler also, denn was tat er schon: Zeichnungen und Graphiken, gerade gut genug, um nicht als Pfuscher zu gelten, und schlecht genug, um nie ein richtiger Maler zu werden, aber zumindest ausreichend, dass er mit echten Künstlern bekannt wurde, doch was waren das für Bekanntschaften, kann sich jemand mit denen befreunden? Keine Freundschaft.
    Ein Halbvater also, denn gezeugt hatte er Jureczek zwar, aber trug er genug zu seinem Unterhalt bei? Schon, aber genug? Wäre die Mutter nicht, in was für einer Wohnung müsste Jureczek hausen, in was für einer Aufmachung herumlaufen, was könnte Hela ihm auftischen? Was hätte er von meinen Graphiken? Ich will meine Graphiken und Zeichnungen vergessen, anstelle der Welt, denn die Welt kann sie nicht vergessen, weil sie nie von ihnen erfahren hat.
    Ein halber Ehemann also, denn ja, manchmal war er Helena eine Stütze, eher in der Gesundheit als in der Krankheit. Krankheiten ekeln mich, deshalb war ich selten krank, weil ich zu sehr von meiner eigenen Melancholie aufgefressen wurde. Als Hela mit Jureczek schwanger war und ich für ein halbes Jahr nach Wien fuhr, um mich zu bilden, und mich überhaupt nicht bildete, sondern beim Heurigen in lustiger Gesellschaft soff, in den Museen herumsaß und im Herbst Kastanien aß und Sturm dazu trank, direkt auf der Straße mit Gesang und Tanz, während Hela mit dickem Bauch noch in der alten Wohnung war, allein mit den Wänden und ihrem nationaldemokratischen Vater, alle seriös und ganz reizend. Patriotisch und eugenisch.
    So liegt er, halb Mensch, halb Vieh, und lacht seinen Tod an, lacht Herrn Solingen an, lacht den Herrn Hackebeil an, hält Ausschau nach ihm und wartet auf Herrn Hackebeil ein Weilchen. Komm, Hackebeil!
    Der dicke Ostpole gerät aus der Fassung. Er ist nicht gewohnt, dass man ihn auslacht.
    Salomé wiederum klammert sich an seine Rechte, er ist ins Schwanken geraten, sie hat es geschafft und hängt an seinem dicken Unterarm, lässt ihn nicht mit dem Beil ausholen, hängt und heult, als wolle sie etwas Teures beschützen, nicht nur einen halben Menschen, der auf den Dielenbrettern liegt, lacht und weint.
    Warum heult Salomé? An Salomés Heulen denkt er

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