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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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hat, tief und starr wie in Fels. Konstanty in seinem teuren Anzug kam sich zu ihren Füßen plötzlich klein vor, unwürdig, schließlich verdankte er diesen Anzug wie so vieles nur ihrer Gunst, ihrer Gunst den gelben Opel mit Originalkarosserie und Zelttuchdach. Mit ihrer Erlaubnis, ihrem Wahn, ihrem Einverständnis zum eugenischen Schwiegervater lebte Konstanty sein eigenes, schönes Leben, in einer Wohnung im vierten Stock des Schokoladen-Mietshauses in Mokotów von Le Corbusier und Żórawski in einer unechten Welt, einer Welt, fingiert von Geld aus dem Nichts. Das doch irgendwo herkam.
    Unwürdig ließ er sich auf den Hocker zu ihren Füßen nieder, die Indianeraugen blickten auf die Wand, auf ein Kruzifix.
    Das einfache Holz des Kreuzes aus Mooreiche, tief im Wassergrund versteinert, hart wie Fels, schwarz, darauf ein Kruzifixus aus Silber, der Leib menschlich, nur statt des Jesushauptes der Kopf eines Vogels, Adler oder Falke, und nicht auf die Schulter gesenkt, sondern erhoben, an die Decke gerichtet.
    Ihr Blick folgte dem des Raubvogels in die Höhe, zur Decke, zurück zu Kostek. Langsam, gründlich tastete sie mit ihren Augen das Zimmer ab, das sie seit zwanzig Jahren nicht verlassen hat, das sie seit zwanzig Jahren niemals hat streichen oder reinigen lassen, als verberge sich in den grau gewordenen Wänden, den Staubballen und Spinnweben ein Geheimnis, und zwar kein geringes, das Geheimnis des menschlichen Seins …
    Die durchdringenden Augen also auf das Kruzifix gerichtet, die siebenundzwanzig Knochen jeder Hand mit vertrockneter, durchscheinender Hautmembran überzogen, die gelben Fingernägel kratzten sanft den festen Einband eines Buches, und Konstanty sah den Titel: «Histoire de l’Œil». Er kannte dieses Buch, er hat es nicht gelesen, denn sein Französisch ist ziemlich dürftig, aber er weiß, wovon es handelt, die Silberaugen des Indianerhäuptlings fest auf dem Kruzifix, die Perversionen auf den Blättern unter den rauen Fingerkuppen. «Du bist reifer geworden, Konstanty», sagte da seine Mutter. «Hast endlich Eier in der Vagina. Der Knabe in dir ist mitten durchgebrochen und verreckt. Du bist jetzt reif dafür, ein Pole zu sein.»
    «Ich bin doch ein Pole, Mutter», sagte dieser andere Konstanty.
    «Ein potenzieller, mein Sohn», antwortete die Mutter mit einer Stimme wie aus dem Radio, einer Stimme wie das Mantra eines buddhistischen Mönchs, tief, ohne Modulation. «Obwohl du einen keltischen Schädel hast, ist dein Protoplasma polnisch, doch dein Boden war unfruchtbar. Jetzt wird dieses verreckte Kind ihn fruchtbar machen, und das Polentum wird in dir aufkeimen, wird aufgehen und hervorschießen. Denk daran, dich jetzt mit vielen Frauen zu paaren, such dir die Wollüstigen, Geilen und Verdorbenen, Fötzchen, die viele männliche Glieder beherbergt haben, reine Frauen rühr nicht an, vor Jungfrauen hüte dich wie vor dem Feuer, Jungfrauen saugen deine Manneskraft aus. Dein Polentum verlangt Gülle, verlangt Jauche als Dünger, nicht die unfruchtbare Weiblichkeit der Jungfrauen.»
    Die Wahnideen strömten ihr aus dem kaum geöffneten Mund, kein einziger Muskel ihres Gesichts bebte, sie starrte auf das Relief an der Wand: Stach aus Warta hat meine Mutter in Bronze gegossen. Ihr Unterkiefer mein Helm, unter ihrem Kinn wächst mein kleiner Kopf hervor, ich bin in diesem Kopf ein kleiner Junge mit großen, pupillenlosen Augen. Früher einmal war sie nicht völlig irrsinnig, früher, ehe sie sich in einen grauhaarigen Indianerhäuptling verwandelt hat. Aber verrückt war sie schon immer.
    Der erste Blickkontakt zwischen ihr und seinem Vater, sie ist vierzig, sein Vater sechzehn, sie begegnen sich auf einem kleinbürgerlichen Empfang in Kattowitz, Oberschlesien, den Graf von Strachwitz mit seinem Sohn beehrt, der Sohn ist fast noch ein Knabe, und in seinen jungen Lenden schlummert der halbe Konstanty. Was für ein Wahn in ihren Augen, sie flüstert ihm zu, als sie sich in der Halle treffen, flüstert ihm ins jungenhafte Ohr, fährt mit den Fingern seinen Kiefer entlang, auf dem erster, dünner Bartwuchs sich zeigt, flüstert: «Komm morgen zu mir, Richard-Holzer-Straße  1 , im ersten Stock, du erkennst es am Namensschild.» Ihre damals fürchterliche Lüsternheit, von der Konstanty weiß, nie hat er sie erlebt, doch er weiß, dass es sie gab, heute ist ihre Lüsternheit wie ein ausgeglühtes Stück Kohle, dessen weiße Asche nicht brennt und nie mehr entflammt, aber doch noch da ist. Er sieht

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