Morphin
spürt, wie der Hals des Vaters zugeschnürt ist vom steifen Uniformkragen, und sie öffnet ihm die Tür, führt ihn durch den Flur ins Zimmer und führt ihn durch die Flure ihres Körpers, aber welchen Körper sieht er da?
Er sieht einen reifen Körper, doch ohne die Zeichen wie bei den Dienstmägden, die er heimlich beobachtete, die schon Kinder hatten, ohne die perlweißen Schwangerschaftsstreifen auf dem Bauch; anders auch Brüste, die nie gestillt haben, anders wirkten sogar die Haarbüschel unter den Achseln und im Schritt, so schön und tierisch weiblich.
Frauen sind für ihn die geheimnisvollste Gattung unter den Haustieren: nur halb gezähmt, zur Wildheit neigend, bedrohlicher als ein unkastrierter Hengst, fürchterlicher als ein tollwütiger Hund. Es braucht einen Mann, um sie zu zügeln, so wie es Mut, Erfahrung und Selbstsicherheit braucht, um ein Rennvollblut sicher zu besteigen.
Und ihr Körper ist trainiert: Sie fährt auf dem Rad, macht sich nichts aus empörten Mienen, davon gibt es ohnehin nicht viele, Kattowitz ist eine neue Stadt, eine frische Stadt, in Kattowitz ist es wie in Amerika. Anders in Gleiwitz, im stickigen, spießigen Gleiwitz wäre das ungleich viel schwerer.
Beim ersten Mal klappt es nicht richtig, denn Fräulein Willemann ist die erste Geliebte des jungen Strachwitz, und ihr erster Liebesakt endet, ehe er noch begonnen hat, noch ehe der junge Strachwitz seine Unterwäsche ablegen kann. Doch Fräulein Willemann führt den Jungen mit erfahrener Hand, sie legt ihn sich zurecht, wie man ein Pferd zurechtstellt, und besteigt ihn, wie man ein Pferd besteigt, lehrt ihn Tempo, Versammlung, lehrt ihn alles. Sie versucht nicht, ihn zum Polen zu machen, obwohl sie das könnte, aber einen Polen hatte sie schon, lieber will sie jetzt einen jungen preußischen Aristokraten, das imponiert und schmeichelt ihr. Und der junge Herr Strachwitz ist am Ende täglich bei ihr und in ihr, er ist jetzt das Haustier und Fräulein Willemann seine Herrin, und sie saugt ihm alle Energie und Manneskraft aus, sie wird zur ganzen Welt des jungen Herrn Strachwitz. Man schreibt das Jahr 1909 nach, wie es heißt, Christi Geburt, ich aber habe vor eintausendneunhundert Jahren zugesehen, habe gesehen, wie Christus geboren wurde, und er wurde geboren wie jedes Tier, in Blut, und wurde geboren als Mensch, schwerer als Tiere, deren Gehirn nicht so grotesk anschwillt im Schoß wie das des Menschen, also wurde Christus geboren aus der aufgerissenen Scham, in Schmerz und Geschrei, bläulich, blutig und schleimig, und ich sah zu, und nichts war so, wie später geschrieben, aber es war.
In Katharina Willemanns Schoß keimt indes Konstanty, so wie Joshua in Miriams Schoß keimte, und doch anders. Der alte Herr Willemann ist längst tot. Efik, das heißt Josef Szyndzielorz, ist ein Häufchen in chinesischer Erde vergrabene Knochen, ohne Schädel, denn der Schädel wanderte auf die Lanzenspitze eines chinesischen Boxers, kleiner Triumph Chinas über die Barbaren aus Europa; Efik rächten später Maxims und Mauser, großer Triumph Europas über die chinesischen Barbaren; und der Schädel des Stallknechts aus Gleiwitz liegt mitsamt dem darin steckenden Eisenspieß auf dem Dachboden eines hässlichen Holzhauses am Rande von Peking. Und das weiß Kostek nicht, seine Mutter weiß es nicht, sie weiß nur, dass Efik aus Gleiwitz geflohen ist und nie gefasst wurde.
Ich aber weiß das. Ich könnte es Konstanty ins Ohr flüstern, tu es aber nicht. Ich könnte die furchterfüllte Flucht des armen Schluckers über Breslau und dann weiter bis nach Hamburg erzählen, könnte von den Menschen berichten, die er kennengelernt hat, von den Berufen, die er ergriff, von der Armee, der Schiffsreise und schließlich dem Krieg auf chinesischem Boden, aber ich werde davon nicht erzählen. Was kümmert Konstanty das Schicksal des ersten Liebhabers seiner Mutter, eines kräftig gewachsenen Gleiwitzer Stallburschen, was kümmert ihn die Liebesaffäre vor einem halben Jahrhundert jetzt, da er in Salomés schmuddliger Küche steht und ihm die Aktentasche gestohlen worden ist, und mit der Aktentasche das Paket, mit dem Paket seine Würde, sein Polentum, die Menschlichkeit und jegliche Ehre?
Aber warum denkt er jetzt an seinen Vater, den er so gut wie gar nicht gekannt hat? Warum sieht er ihn mit den Augen seiner Mutter und sie mit seinen Augen? Ist in diesem Blick so etwas wie Liebe, was ist Liebe, Konstanty liebte Hela, vielleicht liebt er Hela immer
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