Morphium
Poirot plötzlich die undefinierbare Anziehungskraft dieses Mannes begriff.
»Es klingt ein wenig unhöflich, wenn man es so sagt. Aber natürlich ist das der springende Punkt. Also, was können Sie tun, Monsieur Poirot?«
»Ich kann nach der Wahrheit suchen.«
»Ja.«
Es klang ein wenig zweifelnd.
»Ich könnte Tatsachen entdecken, die der Angeklagten helfen würden.«
Roddy seufzte.
»Wenn Sie das nur könnten!«
»Es ist mein ernster Wunsch, jemandem zu helfen. Wollen Sie mich unterstützen, indem Sie mir genau sagen, was Sie von der ganzen Sache halten?«
Roddy stand auf und ging ratlos auf und ab.
»Was soll ich sagen? Die ganze Sache ist so unsinnig – so phantastisch! Die bloße Idee, dass Elinor – Elinor, die ich von Kindheit an kenne – tatsächlich so etwas Melodramatisches tun könnte, jemanden zu vergiften! Das ist einfach ganz lächerlich! Aber wie soll man das einem Gericht begreiflich machen?«
»Sie betrachten es also als ganz unmöglich, dass Miss Carlisle so etwas getan haben könnte?«
»Ganz unmöglich! Das ist doch selbstverständlich! Elinor ist ein wunderbares Geschöpf, ruhig und ausgeglichen. Sie ist intelligent, sensibel und ohne alle dunklen Leidenschaften. Aber setzen Sie zwölf Dummköpfe auf eine Geschworenenbank, und Gott weiß, was man die alles glauben machen kann! Lassen Sie uns schließlich vernünftig sein: Sie sind nicht da, um einen Charakter zu beurteilen, sie sind da, um Zeugenaussagen zu prüfen. Tatsachen – Tatsachen – Tatsachen! Und die Tatsachen sind belastend!«
Hercule Poirot nickte nachdenklich.
»Sie sind ein Mann von Vernunft und Einsicht, Mr Welman. Die Tatsachen verurteilen Miss Carlisle. Ihre Kenntnis ihres Charakters spricht sie frei. Was also ist wirklich geschehen? Was kann geschehen sein?«
Roddy breitete verzweifelt seine Hände aus.
»Das ist es ja eben! Ich nehme an, die Schwester könnte es wohl nicht getan haben?«
»Sie kam den Broten gar nicht nahe – oh, ich habe mich sehr genau erkundigt –, und den Tee hätte sie nicht vergiften können, ohne sich selbst auch zu vergiften, dessen habe ich mich vergewissert. Außerdem, warum sollte sie Mary Gerrard umbringen wollen?«
»Warum sollte irgendjemand Mary Gerrard umbringen wollen?«, rief Roddy aus.
»Das«, nickte Poirot, »scheint in diesem Fall die Frage zu sein, auf die es keine Antwort gibt. Niemand wollte Mary Gerrard töten.« (Bei sich fügte er hinzu: »Außer Elinor Carlisle.«) »Also würde logischerweise der nächste Schluss sein müssen: Mary Gerrard wurde nicht getötet! Aber dem ist leider nicht so, sie wurde getötet!« Nach einer pietätvollen Pause kam Poirot nun zu dem heiklen Punkt der Angelegenheit.
»Es ist ziemlich bekannt, Mr Welman, dass Sie – Mary Gerrard bewunderten. Das ist, denke ich, richtig?«
Roddy stand auf und ging zum Fenster; er spielte mit der Gardinenquaste.
»Ja.«
»Sie haben sich in sie verliebt?«
»Ich vermute es.«
»Ah, und jetzt sind Sie todunglücklich – «
»Ich – ich vermute – ich meine – nun wirklich, Monsieur Poirot – «
Er wandte sich um – ein nervöses, gereiztes, empfindliches Geschöpf.
Hercule Poirot murmelte: »Wenn Sie mir nur sagen könnten – mir nur klarmachen könnten – dann wäre es erledigt.« Roddy Welman setzte sich. Er sah den andern nicht an. Er sprach abgehackt.
»Es ist sehr schwer zu erklären. Müssen wir darauf eingehen?«
»Man kann sich nicht immer abwenden und an den Unannehmlichkeiten des Lebens vorübergehen, Mr Welman! Sie sagen, Sie vermuten, dass Sie sich in das Mädchen verliebt haben – sind Sie dessen denn nicht sicher?«
»Ich weiß es nicht… Sie war so schön. Wie ein Traum… So scheint es mir jetzt. Ein Traum! Nicht wirklich! All das wie ich sie zum erstenmal sah – meine – nun, meine Betörung! Eine Art Wahnsinn! Und nun ist alles aus… fort… als wäre – als wäre es nie geschehen.«
Poirot nickte.
»Ja, ich verstehe… Sie selbst waren nicht in England zur Zeit ihres Todes?«
»Nein, ich ging am 9. Juli ins Ausland und kehrte am 1. August zurück. Elinors Depesche folgte mir von Ort zu Ort. Ich eilte nach Hause, sobald ich die Nachricht hatte.«
»Es muss ein furchtbarer Schlag gewesen sein für Sie. Sie hatten das Mädchen doch sehr geliebt.«
Als keine Antwort kam, fuhr Poirot fort: »Was wussten Sie wirklich von Mary Gerrard, Mr Welman?«
»Was ich wusste? Wenig, zu wenig, das sehe ich jetzt. Sie war lieb, denke ich, und sanft; aber
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