Morphium
eigentlich weiß ich nichts – gar nichts… Deshalb, vermute ich, vermisse ich sie auch nicht…«
Sein Widerstand und Groll waren nun verschwunden, er sprach ganz natürlich. Hercule Poirot hatte wieder einmal die Verteidigungsbarrieren überwunden. Roddy schien durch die Aussprache sogar eine gewisse Erleichterung zu verspüren.
»Lieb – sanft – nicht sehr gescheit. Sensibel, denke ich, und gütig.«
»War sie ein Mädchen, das sich unbewusst Feinde gemacht haben könnte?«
Roddy schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sie nicht mochte – wirklich nicht mochte, meine ich. Groll ist etwas anderes.«
»Groll? Groll war also vorhanden, meinen Sie?«, fragte Poirot schnell.
»Muss da gewesen sein – um den Brief zu erklären«, sagte Roddy zerstreut.
Poirots Stimme klang scharf:
»Was für einen Brief?«
»Oh, nichts von Bedeutung.«
Doch Poirot wiederholte:
»Was für ein Brief?«
»Ein anonymer Brief.«
»Wann ist er gekommen? An wen war er gerichtet?«
Etwas widerwillig erklärte Roddy die Sache, und Hercule Poirot murmelte:
»Das ist interessant! Kann ich den Brief sehen?«
»Leider nicht, ich habe ihn verbrannt.«
»Ja, warum haben Sie das getan, Mr Welman?«
»Es erschien mir damals selbstverständlich«, erklärte Roddy steif.
»Und auf diesen Brief hin fuhren Sie und Miss Carlisle eiligst nach Hunterbury?«
»Wir fuhren hin, ja. Aber ›eiligst‹ – das weiß ich nicht!«
»Aber etwas beunruhigt waren Sie schon, nicht? Vielleicht sogar ein wenig aufgeregt?«
Roddy wurde noch steifer.
»Das würde ich nicht gerade sagen.«
»Aber das war doch nur natürlich!«, rief Poirot. »Ihre Erbschaft war in Gefahr! Da ist es sicher nur natürlich, dass Sie etwas unruhig waren! Geld ist immer wichtig!«
»Nicht so wichtig, wie Sie denken.«
»Ihr Desinteresse ist wirklich bemerkenswert!«, meinte Poirot freundlich.
Roddy errötete.
»Nun, natürlich lag uns etwas an dem Geld. Aber der Hauptzweck unserer Reise war doch, die Tante zu sehen und uns ein Bild von ihrem Gesundheitszustand zu machen.«
»Sie fuhren mit Miss Carlisle hin. Zu jener Zeit hatte Ihre Tante noch immer kein Testament gemacht. Kurz danach erleidet sie einen zweiten Schlaganfall. Da wünscht sie, ein Testament zu machen. Sie stirbt aber, vielleicht zum Vorteil von Miss Carlisle, noch in derselben Nacht, bevor das Testament gemacht werden kann.«
»Hören Sie mal, was deuten Sie da an?«
Roddys Gesicht war zornesrot.
Poirot antwortete ihm blitzschnell:
»Sie haben mir, den Tod von Mary Gerrard betreffend, gesagt, dass das Motiv, das Elinor Carlisle untergeschoben wird, absolut unsinnig ist – dass sie so etwas nicht täte. Aber es gibt noch eine andere Auslegung. Elinor Carlisle hatte Grund zu befürchten, dass sie zugunsten einer Außenstehenden enterbt würde. Der Brief hat sie gewarnt – die gestammelten Worte Ihrer Tante bestätigten diese Befürchtung. Unten in der Halle steht ein Köfferchen mit verschiedenen Medikamenten. Es ist leicht, ein Röhrchen mit Morphium zu entwenden. Und nachher, wie ich erfahren habe, sitzt sie im Krankenzimmer allein bei ihrer Tante, während Sie und die Pflegerinnen beim Essen sind …«
»Großer Gott, Monsieur Poirot, was behaupten Sie da?! Dass Elinor Tante Laura umgebracht hat? Das ist doch ganz lächerlich!«
»Aber Sie wissen doch, dass die Leiche Mrs Welmans exhumiert werden soll, nicht wahr?«
»Ja, ich weiß. Aber man wird nichts finden!«
»Gesetzt den Fall, man findet etwas?«
»Sie finden nichts!«
Roddy sprach mit Bestimmtheit. Poirot schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht so sicher. Und es gab nur eine Person, das wissen Sie, der es nützte, wenn Mrs Welman in diesem Augenblick starb…«
Roddy setzte sich. Sein Gesicht war totenbleich, und er bebte. Er starrte Poirot an.
»Ich dachte – Sie wären auf ihrer Seite…«
»Auf wessen Seite man auch immer ist, man muss den Tatsachen ins Auge sehen! Ich denke, Mr Welman, dass Sie es in Ihrem bisherigen Leben vorgezogen haben, einer unangenehmen Wahrheit, wenn irgend möglich, aus dem Weg zu gehen.«
Poirot wartete eine Weile und sagte dann: »Betrachten wir die Möglichkeit, dass entdeckt wird, dass der Tod Ihrer Tante infolge einer Überdosis Morphium eingetreten ist. Was dann?«
Roddy schüttelte hilflos den Kopf.
»Ich weiß nicht.«
»Aber Sie müssen versuchen nachzudenken. Wer könnte es ihr verabreicht haben? Sie müssen zugeben, dass Elinor
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