Morphium
Sie nach der Wahrheit zu fragen.«
Schwester Hopkins erhob sich voll Zorn.
»Und was, bitte, soll das bedeuten? Ich bin immer eine wahrheitsliebende Person gewesen. Es gibt nichts im Zusammenhang mit dem Tod von Mary Gerrard, worüber ich nicht offen und klar wie der Tag ausgesagt hätte, und wenn Sie da anders denken, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir eine Erklärung dafür gäben! Ich habe mit nichts hinterm Berg gehalten – mit gar nichts! Und ich bin bereit, das zu beschwören.«
Poirot versuchte nicht, sie zu unterbrechen. Er wusste, wie man mit einer zornigen Frau umgehen muss. Er ließ Schwester Hopkins aufbrausen und sich austoben. Dann sprach er – ruhig und mild.
»Ich meinte nicht, dass Sie etwas im Zusammenhang mit dem Verbrechen verschwiegen haben.«
»Was also meinten Sie dann?«
»Ich bat Sie, mir die Wahrheit zu sagen – nicht über den Tod, sondern über das Leben von Mary Gerrard.«
»Oh!« Schwester Hopkins schien einen Augenblick verblüfft.
»Also darauf wollen Sie hinaus! Aber es hat nichts mit dem Mord zu tun.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich sagte, Sie verschwiegen etwas, das sie betraf.«
»Und warum auch nicht – wenn es nichts mit dem Verbrechen zu tun hat?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Warum sollten Sie es tun?«
Schwester Hopkins sagte, hochrot im Gesicht:
»Weil es einfach nur anständig ist! Sie sind heute alle tot – alle, die es betrifft. Und jemand anderen geht es nichts an!«
»Wenn es nur Vermutung ist – vielleicht nicht. Aber wenn Sie wirklich etwas wissen, sieht die Sache anders aus.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen…«
»Ich will Ihnen helfen. Ich werde Ihnen genau sagen, was ich erfahren habe. Also vor mehr als zwanzig Jahren gab es ein Liebesverhältnis zwischen zwei Leuten, und zwar zwischen Mrs Welman, die seit einigen Jahren Witwe war, und Sir Lewis Rycroft, der unglücklicherweise eine Gattin hatte, die unheilbar geisteskrank war.
Zu dieser Zeit gewährte das Gesetz keine Aussicht auf Freiheit durch Scheidung, und Lady Rycroft, deren körperliches Befinden vorzüglich war, konnte neunzig Jahre alt werden. Über das Liebesverhältnis wurde wohl gemunkelt, aber sie waren beide vorsichtig und bemüht, den Schein zu wahren. Dann fiel Sir Lewis Rycroft im Krieg.«
»Und?«, bemerkte Schwester Hopkins kurz.
»Ich glaube«, sagte Poirot, »dass nach seinem Tod ein Kind geboren wurde, und dass dieses Kind Mary Gerrard war.«
»Sie scheinen ja recht gut Bescheid zu wissen!«
»Ich vermute es. Aber es ist möglich, dass Sie einen bestimmten Beweis haben, dass es wirklich so ist.«
Schwester Hopkins saß schweigend mit gerunzelter Stirn ein paar Minuten lang da, dann stand sie plötzlich auf, ging zur Kommode, öffnete eine Schublade und nahm einen Briefumschlag heraus, den sie Poirot gab.
»Ich will Ihnen sagen, wie das in meine Hände kam. Einen Verdacht hatte ich schon, wissen Sie. Erstens die Art, wie Mrs Welman das Mädel immer anschaute, und dazu das Gerede, das ich hörte. Und der alte Gerrard sagte mir, als er krank war, dass Mary nicht seine Tochter sei. Nun, nach Marys Tod räumte ich im Pförtnerhaus auf, und in einer Lade fand ich unter einigen Sachen des Alten diesen Brief.«
Poirot las die Aufschrift in verblasster Tinte:
»Für Mary – ihr nach meinem Tod zu schicken.«
»Diese Schrift ist nicht frisch?«
»Es war nicht Gerrard, der das schrieb«, erklärte Schwester Hopkins. »Es war Marys Mutter, die vor vierzehn Jahren starb. Aber der Alte hob es unter seinen Sachen auf, und so sah sie es nie – und ich bin froh darüber! So konnte sie bis zuletzt den Kopf hoch tragen und hatte keinen Grund, sich zu schämen.«
Poirot zog den Bogen Papier, der mit einer kleinen eckigen Schrift bedeckt war, heraus und las:
Dies ist die Wahrheit, die ich hier niedergeschrieben habe für den Fall, dass sie je gebraucht werden sollte. Ich war Kammerzofe bei Mrs Welman in Hunterbury, und sie war sehr gut zu mir. Mir ist ein Malheur pa s siert, und sie ist mir zur Seite gestanden und hat mich wieder in ihre Dienste genommen, als alles vorüber war; das Kind war gestorben. Meine Herrin und Sir Lewis Rycroft liebten einander, doch sie konnten nicht heiraten, denn er hatte schon eine Frau, die war im Irrenhaus, die Arme! Er war ein feiner Herr und Mrs Welman ganz ergeben. Er fiel im Krieg und bald nac h her sagte sie mir, dass sie ein Kind bekomme. Dann fuhr sie nach Schottland und nahm mich mit. Das Kind wurde dort
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