Morphogenesis
führt?«
»Nach Atlantis …« Er streckte einen Arm heraus. »Mach schon, gib mir die Fotoausrüstung!«
Ich erhob mich, reichte Károly die Kameratasche und spähte zu ihm hindurch. Er stand auf der anderen Seite des Durchschlupfes auf irgendeinem Vorsprung.
»Gibt es ein Geländer?«
»Natürlich nicht! Die Stufen sind zwar nicht sehr breit, aber wenn wir uns dicht an der Wand halten, dürfte nichts passieren. Komm schon rein, hier ist alles trocken, wir können nicht ausrutschen.«
So, wie ich schwitzte, war ich da nicht so sicher. Schließlich stand ich ebenfalls in dem Gewölbe, in meinem Rücken die Wand und unter mir das Nichts. Es wand sich tatsächlich eine steile Treppenspirale in die Finsternis hinab; mächtige, anderthalb Meter breite Stufen aus ungestützten, tief in den Fels getriebenen Steinquadern. Eine fast schon unerträgliche Atmosphäre, die alles Vertraute in den Hintergrund drängte, erfüllte die Mauern. Dieser Abgrund war anders als die fast schon zur Routine gewordenen Grabkammern ägyptischer Königinnen, Priester oder Würdenträger. Etwas Unbegreifliches beherrschte die Stille, etwas, das Äonen überdauert hatte.
Die Natur, so heißt es, schrecke das Leere ab, das Grauen vor dem Nichts.
Das Grauen …
Schritt für Schritt tasteten wir uns die Stufen hinab. Die Gewissheit, dass jeder der äonenalten Felsblöcke unter unserem Gewicht aus der Wand brechen könnte, verlangsamte meine Bewegungen, als näherte ich mich einer schlafenden mythischen Bestie. Längst war bei mir die Neugier, was uns am Grunde dieses Schachtes erwarten mochte, der Hoffnung gewichen, heil und lebendig unten anzukommen. Als wir etwa vierzig Meter hinabgestiegen waren, ertasteten unsere Lichtkegel zum ersten Mal den Boden.
»Na, siehst du«, triumphierte Károly, »keine Lavakuppe.«
Ich schnitt eine Grimasse.
Was wir sahen, war reichlich unspektakulär, um nicht zu sagen: ernüchternd. Es gab weder Statuen, noch Truhen oder Schreine, und auch kein namenloses schlafendes Ungeheuer. Nichts bis auf ein Objekt, das aussah wie eine steinerne Rundbank. Dann, wenige Meter über dem Boden, in einer Tiefe von annähernd neunzig Metern, begannen die Reliefs. Sie besaßen eine Höhe von knapp fünf Metern und zogen sich wie ein Ring entlang der gesamten Wand, Schriftzeichen über Schriftzeichen, durchsetzt von eigenartigen bildhaften Darstellungen.
»Die gleichen Schriftzeichen wie oben auf der Tür«, begeisterte sich Károly. »Das muss die Geschichte eines ganzen Volkes sein.«
»Oder die Lebensgeschichte desjenigen, der hier bestattet wurde«, gab ich atemlos zu bedenken.
Károly packte seine Kamera aus und begann mit Begeisterung die Reliefs und den rundbankartigen Torus zu fotografieren. Sein Blitzlicht zuckte durch die Dunkelheit und projizierte für Sekundenbruchteile bizarre Schatten meiner Gestalt an die gegenüberliegenden Wände. »Für mich ähnelt das einer Verschmelzung von arabischer Schrift mit Abdrücken von Halbleiterplatinen«, bemerkte er beiläufig. »Wenn sie wirklich zehntausend Jahre alt ist, dann waren jene, die sie benutzten, weiter entwickelt als jede andere Kultur dieser Epoche. Womöglich sind dies hier die Zeugnisse der ersten menschlichen Hochkultur.«
Das Licht meiner Taschenlampe entriss der Dunkelheit derweil etwas anderes: Blutige Fleischbrocken und Eingeweidefetzen, unförmige zerplatzte Klumpen, die über den Boden verstreut lagen und dem Ort das Kolorit einer Opferstätte verliehen. Und noch etwas befand sich am Grund des Bauwerkes: Staub! Mehr als knöchelhoch bedeckte er den Boden und die ringförmige Erhebung. Stellenweise hatte er sich sogar in den Fugen der Reliefs abgelagert. Als wir hindurchwateten und dabei peinlich bemüht waren, Rahmeds Innereien auszuweichen, erwies er sich als zähe Masse, die das Gehen behinderte. Er war schwerer als herkömmlicher Staub, ein grauschwarzes, geruchsneutrales Mehl. Man konnte das Zeug nicht in der Hand halten, es rann zwischen den Fingern hindurch wie Wasser.
Ich sah Károly an und wusste, dass er das Gleiche dachte wie ich.
»Irgendetwas war hier«, sagte ich. »Etwas, das all die Jahrtausende in der Dunkelheit und dem Vakuum überdauert hat, bis wir die Öffnung in die Tür gestemmt haben. Es gibt kaum Aufschlagspuren von Rahmeds Eingeweiden im Staub. Was auch immer sich hier befunden haben mag, erst die einströmende Luft hat es zerfallen lassen.«
Károly hängte sich die Kamera um den Hals und leuchtete mit seiner
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