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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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kaum merklich, den Blick weiterhin auf den Leichnam gerichtet. Meine Lippen waren noch immer nicht vorhanden, was sollte ich also sagen?
    »Kematef …« Sahias Stimme war ein scheußliches Krächzen. Ein Schwall Kupferrot entfloh ihrem Mund und der Halswunde. Die junge Frau schlug die Augen auf und sah mich an. Ich erwiderte ihren Blick, studierte das Blau ihrer Augen und versuchte zu lächeln.
    Wie lächelt man ohne Lippen? Ich fragte mich, ob mein mundloses Lächeln oder jenes, das sich nun im Gesicht des Leichnams bildete, das Hässlichere war. Mein Atem bebte, als Sahia einen Arm hob, mich zu sich heranzog und ihre kalten, blutverklebten Lippen auf die glatte Stelle unter meiner Nase presste. In den spiegelnden Kacheln des Seziertisches, die nicht von Kupferrot befleckt waren, erkannte ich mein verzerrtes Konterfei. Der schiefe rote Kussmund, der auf meiner Haut zurückblieb, entstellte mein Gesicht zu einer grotesken Clownsgrimasse.
    »Bist du bereit, Kematef?«, drang es heiser aus ihrer zerfetzten Kehle.
    Bereit wofür?, fragte ich in Gedanken.
    »Dich mir zu erfüllen.«
    Ich schüttelte den Kopf. Warum hast du mich hierher gebracht?
    »Um zu leben, Kematef. Um die unüberwindbare Grenze zu überschreiten.«
    Hilf mir, es zu verstehen.
    »Sie hätten sie nicht öffnen sollen …« Sahias Stimme war ein tonloses Flüstern. »Sie niemals befreien dürfen … Sie hielten sie für etwas Göttliches, doch sie waren ein Fluch … Ein Fluch …!«
    Wen?, fragten meine Augen. Was?
    »Die Legionen. Unsere hungrigen Legionen.«
    Gibt es eine Möglichkeit, Sarara zu verlassen?
    »Ein Sprichwort sagt: Der Tag der geht, ist besser als der, der kommt …«
    Wie finde ich wieder zurück?
    »Indem du dem begegnest, das du fürchtest.«
    Was bedeutet das?
    Sahia lächelte. »Du musst zusammenführen, was entzweit wurde, und zerstören, was vereint ist.« Ihre verstümmelte Hand ließ von mir ab und fuhr unter ihr Gewand, hinein in die klaffende Wunde in ihrem Bauch, so tief, dass ihr gesamter Unterarm im Fleisch verschwand. Ihre Finger gruben sich durch ihren Körper, dann zog sie den Arm wieder aus sich heraus, und mit ihm ein metallisch glänzendes Objekt, das sie mir reichte.
    »Für das Leben, Kematef.«
    Als ich den Gegenstand in den Händen hielt, fühlte ich Kupferrots Macht, die durch meine Finger in meinen Arm floss, bis sie meinen gesamten Körper erfüllte. Der Ausdruck auf Bouralehs Gesicht verwandelte sich in Bestürzung, als ich die Waffe schweigend auf seinen Kopf richtete.
    »Was zum …?«, entfuhr es ihm, während er fassungslos in die fingerdicke Mündung starrte.
    Der Hahn erzeugte einen abgehackten Ton, als ich ihn spannte, wie eine zerplatzende Glühbirne, dann betätigte ich den Abzug und zersprengte Bouralehs Kopf in tausend Stücke. Pulvergeruch erfüllte die Luft. Ohne zu zögern schwenkte ich die Waffe auf die verbliebenen Klone und drückte ab. Ohrenbetäubend verließen die Geschosse den Lauf, trafen die fassungslosen Uniformierten und streckten sie nieder. Verkrümmt blieben sie liegen und gaben ihrerseits Kupferrot frei.
    Ich richtete die Waffe gegen die riesenhafte Kreatur, doch das Fenster war leer. Nichts regte sich jenseits der Scheibe, nur ockerfarbenes, konturloses Wogen …
    Ungläubig starrte ich durch das Glas, dann wandte ich mich wie in Zeitlupe erneut Sahia zu. Ihr Körper ruhte wieder so starr und entseelt auf dem Tisch wie zuvor. Das einzige außer mir noch lebende Wesen innerhalb dieser Wände war Kupferrot, dessen mäandernder, strömender Leib den größten Teil des Saalbodens für sich beanspruchte. Sein süßer, beißender Atem berauschte mich. Ich musterte die Waffe. Es war eine Perkussionspistole mit einem Holzgriff und eisernem Schloss und Beschlag. Sie musste mindestens zweihundert Jahre alt sein. Seltsam war, dass ich vier Schüsse in Folge abgegeben hatte, ohne sie ein einziges Mal nachzuladen.
    Ich zielte auf die Kamera. Mit der Detonation erlosch ihre Funktionsanzeige, und das Gerät sank wie eine verwelkende Blume mit dem Objektiv gen Boden. Zufrieden verstaute ich die Waffe wieder in Sahias Körper. Dann legte ich zärtlich eine Hand auf ihr Gesicht und zog vorsichtig die Haut ab. Darunter kam ein grün schillerndes Reptiliengesicht zum Vorschein, das von einem Geflecht violetter Schuppen bedeckt war. Achtlos warf ich das menschliche Protogesicht in eine Ecke des Saales, während es unter meinen eigenen Zügen pulsierte, als ob ein riesenhafter Mund unter ihnen

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