Morphogenesis
Lippenbewegung gefilmt, jede Temperaturschwankung seines Körpers analysiert wurde. Jeder Schweißausbruch wurde aufgezeichnet, jede Pupillenbewegung dokumentiert, jede Herzfrequenzschwankung gespeichert.
Die Schwester sah ihn an, und er erwartete bereits das Handzeichen für einen Stromstoß, doch sie sagte nur: »Mister Ka, Mister Ka…«, und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Ein seltsames Verhalten für eine Maschine, wie Ka fand. »So Leid es mir tut, aber Sie gefährden den Plan.«
»Dieser Plan ist ein ebenso leeres Gebilde wie diese lebenserhaltende Maschine und der Jaru-Garten«, murmelte Ka. »Er hat noch niemanden gerettet. Das Sanatorium ist voll von verlorenen Seelen, die vor toten Monitoren hocken und stumpfsinnig auf ihr verblasstes Leben starren. Alle, die bisher an diese Maschine angeschlossen waren, sind dahingeschieden. Alle!«
»Darum gibt es innerhalb dieser Mauern auch keine Hoffnung mehr für Sie, Mister Ka«, sagte die Schwester und betätigte einen verborgenen Mechanismus, der die Schellen um seinen Hals und seine Gelenke aufschnappen ließ. Mühelos schob sie die Arme unter seinen Körper und hob ihn von der Liege. Ka bäumte sich auf, war jedoch viel zu schwach, um sich erfolgreich zu wehren. Die verabreichten Infusionen hatten gerade mal ausgereicht, um ihn ›am Leben‹ zu halten.
»Wohin bringen Sie mich?«, fragte er beunruhigt, nachdem die Schwester den Raum verlassen hatte und ihn durch endlos wirkende Korridore trug.
»An Ihren Platz, Mister Ka.«
Die Tür nach draußen öffnete sich so abrupt, dass Ka – geblendet von der plötzliche Helligkeit und dem heißen Sturmwind, der an ihm zerrte – alarmiert aufstöhnte. Davon unbeeindruckt behielt die Schwester ihn im Griff und schritt über unebenes Gelände zügig bergab. Das ferne Aneinanderschlagen unzähliger Knochen verriet Ka, wo sie waren: wieder über den Feldern.
Noch bevor sich seine Augen gänzlich an das Licht der tiefstehenden Sonne gewöhnt hatten, ließ die Schwester ihn unsanft zu Boden fallen. Ka war sich sicher, mehrere seiner spröden Knochen gebrochen zu haben. Seine Rippen waren eingeknickt wie dünne Kerzenstiele.
Ka wollte aufschreien, doch ein zufälliger Blick bergauf verschlug ihm die Sprache. Zum ersten Mal sah er das Sanatorium von außen – und sein Anblick erdrückte ihn fast durch seine Wucht. Auf dem Grat eines sich sanft wölbenden Bergrückens erhob sich in kilometerweitem Halbrund eine kolossale Maschine, ein gigantischer Gerätekomplex aus Metall, Glas und Kunststoff; Monitore, die Blutdruck, Gehirnströme und Herzrhythmusfrequenzen wiedergaben, Anzeigen für Pulsoxymetrie und den CO 2 -Gehalt des Hämoglobins, für Körpertemperatur und Beatmungsdruck. Diagramme erleuchteten die Landschaft wie grüne und blaue Blitze, kilometerlange Kabel und Plastikschläuche, so dick wie Eisenbahntunnels, führten in die Wolken hinauf. Die gigantische Maschine wurde gekrönt von einem altmodischen, gläsernen Beatmungsgerät.
Die Augen der Schwester blitzten im Abendrot. »Sie waren ein schwieriger Fall, Mister Ka«, erklärte sie. »Vielleicht der schwierigste, den wir je hatten. Jener, auf dessen Wiederkehr viele Menschen so sehnsüchtig warten, war ebenfalls ein Iretmeth. Zwar sorgte auch er seiner Natur entsprechend für Unruhe, aber sein Ka zu betreuen war ein Kinderspiel gegen die Mühen, die Sie uns bereiteten. Wissen Sie noch, was das ist – ein Kinderspiel?«
Ka sah die Frau an, unfähig zu antworten.
»Himmel und Hölle ist ein Kinderspiel, Mister Ka«, fuhr die Schwester in ihrem Monolog fort, »Sehen Sie sich um. Jaru ist ebenfalls ein Kinderspiel. Die Sarara- Sphäre ist ein intelligentes, vielschichtiges System. Doch je komplexer der Geist, desto größer wird der Wunsch, ihn zu befreien. Und das ist dem Plan ein Gräuel.«
Ehe Ka es verhindern konnte, stieß sie die Finger ihrer rechten Hand wie eine Fangkralle in seinen Brustkorb. Der seinen Körper lähmende Strom ließ Ka zusammensacken. Gleichzeitig zwang der explodierende Schmerz ihn zu einem Schrei, der sich als heiseres Pfeifen Bahn brach.
»Gehen wir, Mister Ka«, sagte die Schwester. »Die Liebe des Schöpfers wartet auf Sie …«
Sie riss ihn herum und zerrte ihn wie ein erlegtes Tier den Hügel hinauf. Ka spürte ihre um sein Brustbein geklammerten Finger zwischen den Rippen, unfähig, einen einzigen Muskel zu bewegen oder gegen den Schmerz des Stromes und der Wunde anzuschreien. Seine kraftlosen Arme und Beine
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