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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Pilot diesmal keinen Finger krumm getan hatte. Ich starrte den Propeller zu meiner Rechten an, als könnte ich ihn Kraft meiner Blicke zum Weiterdrehen zwingen. Gespenstische Stille lastete auf dem Cockpit. Wider Erwarten sackte die Maschine jedoch nicht ab, sondern blieb waagerecht schweben.
    »Warum stürzen wir nicht?«, flüsterte ich.
    »Weil wir gelandet. Willst du jetzt vielleicht eine Keks?«
    »Nein, zum Teufel, ich will keinen Keks!«, schrie ich. »Ich will endlich wissen, was los ist!«
    »Wir am Ziel«, antwortete der Pilot. »Man dich erwarten.«
    »Ach ja? Und wer mich erwarten, wenn ich darf fragen?«
    Ein riesiger, länglicher Schatten rauschte plötzlich in einiger Entfernung am Cockpit vorbei. Er bewegte sich geschmeidig durch die Luft und verschwand ebenso schnell wieder in den Wolken, wie er aufgetaucht war.
    »Was war das?« Meine Stimme klang heiser.
    »Das gewesen des Pudels Kern!«

 

     
     
     
    Geöffnet ist dir das Verborgene, mit geheimen Gestalten,
    aufgetan sind dir die Türflügel der Größten Stadt!
     
    Aus dem ägyptischen Totenbuch Amduat
    Erste Stunde

 

     
     
    Archon löste seine Gurte, erhob sich und ging nach hinten in den Laderaum. Ich hörte ihn irgendwelches Kauderwelsch vor sich hinbrabbeln, während er in Kisten und Gepäck herumwühlte und nach etwas zu suchen schien.
    Ich blieb sitzen und hielt Ausschau nach dem seltsamen Gebilde, das ausgesehen hatte wie eine monströse, sich durch den Nebel windende Schlange. Draußen vor dem Fenster war jedoch alles wieder ruhig und gleichmäßig weiß. Wahrscheinlich hatte ich mir das Phänomen in meiner Aufregung nur eingebildet. Sah man einmal von der Tatsache ab, dass die Motoren stillstanden, aber das Flugzeug allen Naturgesetzen zum Trotz weiterhin in den Wolken schwebte, deutete nichts auf ungewöhnliche Aktivitäten hin. Gebannt beobachtete ich das formlose Wallen jenseits des Cockpitfensters und versuchte eine rationale Erklärung dafür zu finden, warum die Maschine nicht abstürzte. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätten wir längst als zerschmetterte Fleischklumpen die Winterlandschaft zieren müssen; rotschwarz über lilienweiß, in einem zerschellten Wrack …
    Archon hörte auf zu rumoren und kehrte ins Cockpit zurück. Auf seinem Rücken hing ein schlaffer Rucksack, in dem sich etwas Kleines, aber sehr Schweres befinden musste. Ich starrte den Piloten an wie eine Erscheinung des heiligen Antonius.
    »Was haben Sie vor?«, wollte ich wissen.
    »Wir werden gehen in Zentrum.«
    »Einfach so, über die Wolken?« Ich löste ebenfalls meine Gurte und rieb mir die schmerzenden Schultern. »Ohne Fallschirm?«
    »Fallschirm nicht nötig.« Archon stieß seine Hand wie eine Walfisch-Harpune in die Kekstüte und zerbiss seinen Fang mit beunruhigender Leidenschaftlichkeit. »Letzte Chance vor langem Marsch«, meinte er kauend und schlenkerte die Tüte vor meinem Gesicht. Ein einzelnes Gebäckstück purzelte in ihr herum.
    »Ich bleibe hier!«, erklärte ich bestimmt. »Ich bin doch nicht verrückt und spaziere durch eine Wolke.«
    »Iss!«, forderte Archon unbeeindruckt.
    »Verdammt!« Ich zog das Gebäck heraus, roch instinktiv daran, schob es mir in den Mund und begann appetitlos zu kauen. Es schmeckte nach Anis und etwas nicht Definierbarem.
    »Und?«, erkundigte sich der Pilot. In seinen Augen stand ein erwartungsvolles Funkeln, als hoffe er, ich würde ihm in der nächsten Sekunde vor Genussfreude um den Hals fallen.
    Ich zuckte die Achseln.
    »Gut, dann jetzt komm, sonst wir nicht in Zentrum vor Sonnenuntergang.« Archon machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte wieder in den Laderaum. Ich hörte, wie er die Bordtür öffnete und irgendetwas brummte, dann sprang er aus dem Flugzeug.
    Beklemmende Stille erfüllte mit einem Mal die Maschine. Der Geruch von Ammoniak kroch ins Cockpit, begleitet von einem kühlen Luftstrom. Ich hielt den Atem an, starrte ins Leere und lauschte. Das Rauschen meines Blutes lag mir in den Ohren, steigerte sich innerhalb von Sekunden zu einem pulsierenden Rhythmus. Jede Sekunde erwartete ich Archons verwehenden Schrei aus dem Mund seines in die Tiefe stürzenden Körpers, doch die Sekunden vergingen, ohne dass ein Laut die geisterhafte Stille zerriss. Wie lange benötigte ein Mensch, um eintausend Meter tief zu fallen? Dreißig Sekunden? Zwanzig?
    Neben mir klopfte jemand von außen gegen die Cockpitscheibe und schreckte mich aus meiner traumatischen Starre. Ich stieß den

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