Morphogenesis
Halt verlor. Die Augen hielt ich geschlossen, verließ mich vollkommen auf meinen Tastsinn. Ab und zu befiel mich die Angst, meine Zehen würden die nächste Kerbe nicht erreichen – dann, nach endlosen Minuten, traf mein Fuß endlich auf warmen Sand. Zitternd stand ich schließlich am Fuß der Mauer, versuchte mein Herzrasen unter Kontrolle zu bringen und starrte hinauf zur Balustrade.
Gut gemacht, Krispin. Du bist der reinste Gecko.
Ich grinste selbstzufrieden, dann schritt ich aus, mein neues Reich zu erkunden und jenen Eindringling zu finden, der sich an seine Oberfläche gewühlt hatte.
Dachte ich mir die Mauern weg, konnte ich glauben, durch die afrikanische Savanne zu marschieren. Es fehlten nur das Gras, das die Savanne überhaupt zur Savanne machte, und ein paar Elefanten, Nashörner und Giraffen. Handlange Dornen warnten mich davor, den Bäumen zu nahe zu kommen. Eigentlich waren Akazien nur zu Bäumen hochgesprossene Dornenbüsche, ähnlich den Mimosen. Ich ließ meinen Blick schweifen und suchte den Fremden. In der Nähe der Stelle, wo er scheinbar aus dem Boden geschlüpft war, entdeckte ich ihn schließlich im Schlaf zusammengerollt unter einem der Bäume.
Er war um die fünfzig und athletisch gebaut, und als ich mich ihm vorsichtig näherte, sah ich seine Verletzungen. Kein einziges Haar wuchs mehr auf seinem Körper, die Haut war schlaff und sah verbrannt aus. Blasen übersäten seinen Leib wie eine ekelhafte Krankheit, und dort, wo sie aufgeplatzt waren, trat Wundsekret aus.
Mein Schatten konnte es nicht gewesen sein, der ihn aufschrecken ließ, denn unter dem gleichförmigen Grau des Pseudohimmels existierte dergleichen nicht. Der Fremde fuhr hoch, sah mich, stieß ein wildes Heulen aus, und ehe ich mich versah, hing er mir an der Gurgel. Seine Hände drückten zu wie Schraubstöcke, und ich hörte, wie mein Kehlkopf knackte. Der Eindringling gebärdete sich wie ein tollwütiges Tier, warf mich auf den Rücken, kniete sich auf meine Brust und schlug meinen Kopf wieder und wieder auf den Boden. Bunte Kreise platzten vor meinen Augen, während ich vergeblich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Der Verrückte besaß schier übermenschliche Kräfte. Ich hörte ihn in einer unbekannten Sprache schreien: »Hawron! Hawron!«
Immerfort wiederholte er diesen Ausdruck, und bei jedem Mal hob er meinen Kopf und schlug ihn erneut in den Dreck. Der Sauerstoffmangel und der Schmerz verzerrten mein Gesicht zur Grimasse, meine herausquellende Zunge war inzwischen so dick wie eine Roulade. Alles verschwamm vor meinen Augen, dann fühlte ich das dumpfe Krachen meines Kehlkopfes, und der Irre löste sich vor meinem ersterbenden Blick in einem wirren Formenstrudel auf.
Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, seit er die Augen geöffnet hatte. Es mochten Stunden gewesen sein, oder auch nur Minuten. Die Zeit strahlte astralweiß, durchsetzt von Reflexionen winziger Blitze, die vor seinen Augen nachleuchteten wie elektrische Funken. Sie schillerten in allen Farben des Spektrums, Kristalle in salzübersättigten Tränen, die als hauchdünner Film auf seinen Pupillen lagen.
Er fand keine Konturen in diesem Weiß, selbst dann nicht, als er seinen Blick umherwandern ließ, in der Hoffnung, irgendetwas erkennen zu können. Er wusste nicht einmal, ob seine Lider tatsächlich offen waren und seine Pupillen sich bewegten. So sehr er auch suchte, er fand keine Kontraste, nicht einmal sanfte Schattierungen, die einen Eindruck von Nähe und Ferne vermittelten. Die einzigen Umrisse, die er wahrzunehmen glaubte, waren Trugbilder, optische Echos auf der Retina, hervorgerufen durch das Bemühen seines Verstandes, das allgegenwärtige Weiß zu etwas Sinnvollem zu formen.
Langsam hob er eine kraftlose Hand vor sein Gesicht, dann eine zweite. Beide erschienen ihm wie Fremdkörper. Gleichzeitig vermittelten sie ihm etwas Beruhigendes; die Gewissheit, wach und lebendig zu sein. Er ließ die Hände sinken, strich über den Stoff einer Bettdecke, dann über die Matratze, bis er das kühle Metall des Bettgestells unter den Handflächen spürte. Er wollte sich aufrichten, aber etwas Massives behinderte ihn. Vorsichtig tastete er das Ding, das ihn gefangen hielt, ab. Es war ein Stützkragen, der vom Kinn abwärts seinen gesamten Hals umschloss und bis auf seine Brust reichte. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn, als er sich des vermutlichen Zwecks des Kragens bewusst wurde. Dann stellte er fest, dass er
Weitere Kostenlose Bücher