Mortal Kiss
hören war. Faye spürte eine kräftige Hand am Arm.
»Lass ihn « , sagte Joe mit müdem Gesicht. »Er braucht Zeit .« Dann hob er die Schriftrolle. »Gute Arbeit. Die könnte genau das sein, was wir brauchen .« Joe ließ ihren Arm los, setzte sich und studierte das alte Blatt.
Faye wandte sich den anderen zu, die bestürzt dastanden. Jimmys Gesicht hatte die kaum zurückgewonnene Farbe wieder verloren. »Alles in Ordnung ?« , fragte ihn Faye.
»Ja « , sagte er schwach und versuchte zu lächeln. »Mir ist nur … vielleicht sollte ich mich ein Weilchen setzen .«
Liz hakte sich bei Jimmy unter. »Komm, hier draußen ist es sowieso zu kalt. Du gehörst ins Zelt .«
»Mir geht’s gut « , protestierte Jimmy. »Ich bin bloß etwas müde .«
»Ich komm mit « , erklärte Liz. »Mir ist hier draußen nämlich kalt .«
Jimmys Gesicht bekam kurz einen besorgten Ausdruck, und er legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich hab noch eine Decke übrig .«
Faye sah ihre beiden Freunde langsam zu Jimmys Zelt gehen und darin verschwinden. Sie musste lächeln. Ein Gutes hatte dieses Durcheinander jedenfalls. Jimmy tat Liz gut, doch Faye fand, dass auch ihre beste Freundin Jimmy sehr guttat. Sie waren ein hübsches Paar, und ihr war klar, dass er sein Glück kaum fassen konnte. Seit Langem hatte er Liz aus der Ferne bewundert, und nun waren sie zusammen. Jimmy hatte sich verändert, er war stärker geworden, als hätte dieses Erlebnis ihn gezwungen, auf eigenen Beinen zu stehen, und es schien, als würde er dieses Gefühl genießen.
Sie sah sich nach Lucas um, doch der war verschwunden. Eben hatte er noch reglos beobachtet, was sich vor seinen Augen auf der Lichtung zutrug, und nun war er weg. Faye sah Fußspuren von da, wo er gestanden hatte, in den unberührten Schnee des Waldes führen.
Sie folgte ihm und fand ihn neben einer großen Zeder auf einem Hügelkamm. Vor ihm lag ein steiler Abgrund. Lucas hatte sich der Kälte wegen die Arme um den Leib geschlungen und sah auf das Meer verschneiter Bäume runter. Faye spürte, dass sie ihn ins Herz geschlossen hatte. In den letzten Tagen hatte er einige schwierige Dinge über seine Familie erfahren, das musste hart sein.
»Lucas ?« Faye blieb ein paar Meter entfernt stehen und begriff plötzlich, dass er vermutlich allein sein wollte. Er bewegte sich nicht und schwieg. Sie trat neben ihn und sah in die öde Landschaft. Wieder waren dicke Schneewolken aufgezogen.
»Seltsam « , sagte Lucas nach kurzem Schweigen. »Ich habe mich immer gefragt, wie es wäre, einen Bruder zu haben. Und dann ist es ein Trottel wie Finn !«
Faye lächelte unwillkürlich. »Er ist ein anständiger Kerl, Lucas. Er ist bloß … temperamentvoll .«
Lucas wandte ihr den Kopf zu. »Du verteidigst ihn dauernd, weißt du das eigentlich ?«
Faye zuckte mit den Achseln. »Er hat mir das Leben gerettet .«
Lucas lachte trocken. »Stimmt. Mein Bruder ist also der Held. Und was bin ich dann? Der Versager der Familie ?«
Faye streckte die Hand aus und zog Lucas zu sich herum. »Ich weiß, das ist sehr schwer, aber … «
Lucas schüttelte den Kopf, und sie verstummte. »Schwer ist das nicht. Scheidung ist schwer. Das hier ist … unmöglich! Noch letzte Woche war ich ein normaler Teenager, bloß etwas reicher als die meisten. Und jetzt weiß ich nicht mal mehr, wer ich bin. Allerdings war ich mir dessen nie so sicher .« Er lachte erneut, ein knappes, unfrohes Lachen. »Weißt du was? Als Joe zu Finn sagte, ich sei sein Bruder, dachte ich, er sei mein Vater. Einen Moment lang dachte ich … « Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Das wäre mir recht gewesen. Sogar richtig glücklich hätte es mich gemacht. Aber nein, ich habe den Kürzeren gezogen. Die Große Böse Mercy ist noch immer meine Mutter, und mein Vater ist weiter irgendein namenloser Depp .«
Faye wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte dazu nichts sagen. Stattdessen zog sie Lucas an sich. Sie spürte, wie fest er sie hielt, spürte seine Wange an ihrem Haar. So standen sie einige Minuten lang schweigend.
»Jetzt bist du bei uns « , sagte sie schließlich in die Stille hinein. »Wir sind für dich da .«
Sie spürte, wie Lucas etwas von ihr abrückte, um ihr Gesicht in die Hände zu nehmen. Schmerz stand in den blauen Augen, und doch lächelte er leicht. »Wirklich, Flash? Bist du für mich da ?«
Als sie ihm in die Augen sah, bekam sie Schmetterlinge im Bauch. Sie hatte die Arme noch immer um seine Taille
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