Mortal Kiss
keinen Vorteil gönnen, den sie gegen ihn einsetzen konnte.
Er hielt auf die Souterrainzimmer zu, in denen früher wohl die Dienstboten gewohnt hatten. Die kleine Außentür war abgeschlossen, doch die Fenster links und rechts waren aus altem Glas, das sich leicht zertrümmern ließ. Und Finn hatte lederne Bikerhandschuhe an. Mit der Faust schlug er eine Scheibe ein, das Glas klirrte auf den Steinboden. Er verharrte reglos und lauschte auf Anzeichen dafür, dass ihn jemand gehört hatte, doch es bewegte sich nichts. Finn griff durch die zerbrochene Scheibe und ertastete den Schlüssel, der innen im Schloss steckte. Binnen drei Minuten war er im Haus und blieb erneut lauschend stehen. Kein Ton zu hören. Der Bau schien tot zu sein.
Finns Gummisohlen machten auf dem Steinfußboden kein Geräusch, als er aus der Küche und die kurze Treppe hoch ins Erdgeschoss schlich. Nirgendwo brannte Licht, das Haus war kalt und dunkel. Der Flur, in dem er sich befand, führte in die Eingangshalle mit ihrem herrlichen Marmorboden. Eine prächtig geschwungene Holztreppe führte in die düstere erste Etage. Finn hielt kurz inne, um sich zurechtzufinden, und wünschte, er könnte seine Wolfssinne einsetzen, doch die hielt er an der kurzen Leine, damit diese Seite seines Wesens nicht schon bei der ersten richtigen Begegnung mit seiner Mutter zum Vorschein kam. Über viele Jahre hatte Finn zu beherrschen gelernt, wann er zum Wolf wurde. Wenn er sehr wütend war oder angegriffen wurde, scheiterte er daran aber. Manchmal spürte er die Verwandlung, ehe er noch eine Möglichkeit hatte, die Bestie in sich zu unterdrücken. Doch meist hatte er die dunkle Seite seiner selbst im Griff.
Dann hörte er einen Wagen durchs Haupttor kommen und Kiesel unter den Reifen knirschen. Er blickte sich um, sah die Tür zu einem abgedunkelten Zimmer offen stehen und schlüpfte hinein. Sekunden später öffnete Mercy Morrow die Haustür und verharrte kurz lauschend auf der Schwelle, wie Finn es getan hatte. Fasziniert beobachtete er sie aus dem Schatten. Wie groß und schlank sie war … und wie schön! Er schluckte und versuchte sich durch die Jahrhunderte an die Zeit zurückzuerinnern, als sie tatsächlich seine Mutter gewesen war. Erstaunt stellte er fest, dass es ihm wichtig war, sie so sehen zu können. Er hatte nie gewusst, wie es war, eine Mutter zu haben. Und nun war sie da, keine zwanzig Schritt entfernt. Finn war dazu erzogen, sie zu fürchten, ja, zu hassen. Doch nun, da er hier war, erschienen ihm die Dinge nicht mehr so einfach.
Mercy schaltete das Licht an und sah sich um. Ihre großen Augen funkelten in der plötzlichen Helligkeit.
»Ich weiß, dass du hier bist « , erklärte sie und rührte sich noch immer nicht vom Fleck. »Glaubst du, ich spüre meinen Sohn nicht, wenn er so nah ist ?« Mit gerecktem Hals und erhobenem Kinn machte Mercy einen Schritt auf den Marmorboden. »Ich weiß, wo du gewesen bist, Lucas. Dass du es wagst, einfach so zu mir zurückzukehren !«
Finn fiel ein Stein vom Herzen. Mercy spürte ihren Sohn, aber nicht, dass er es war und nicht Lucas. Sie merkte nur, dass einer ihrer Verwandten in der Nähe war. Er schloss kurz die Augen. Na, das war Bestätigung genug.
Er trat aus dem dunklen Zimmer ins Licht, sagte aber nichts. Mercy fuhr bei seinen Schritten herum, und ihr verärgertes Stirnrunzeln wandelte sich in blanken Schrecken, den sie rasch hinter der Maske des Desinteresses verbarg.
»Ah ja« , sagte sie gedehnt und näherte sich ihm. »Schau an, wen wir da haben … meinen verlorenen Sohn und Möchtegernerben. Hat Joe es dir also endlich erzählt? Hat er dir nach all der Zeit die Wahrheit enthüllt ?«
Finn beobachtete stumm, wie Mercy langsam näher kam. Sie lächelte zu seinem Schweigen so reizend und freundlich, dass es sein Herz rührte. Das war seine Mutter, das war …
»Na, was denkst du nun über den wunderbaren, redlichen Joe Crowley, mein Süßer ?«
Er räusperte sich. »Das ändert gar nichts .«
Mercy lächelte erneut. »Ach nein? Warum bist du dann hier ?«
Sie berührte sein Gesicht mit eiskalten Fingern, und ihn fröstelte. Als er jünger gewesen war, hatte er sich nach den Armen seiner Mutter gesehnt, die ihm in den kalten Nächten unterwegs vermittelt hätten, dass er geliebt wurde.
»Ich wollte bloß sehen … «
»Was wolltest du sehen ?« , flüsterte sie.
Finn schüttelte den Kopf und konnte nichts sagen. Plötzlich ließ Mercy die Hand seinen Arm hinabgleiten, griff seine Finger
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