Mortlock
aber sie wusste, dass er es nicht war.
»Mr Gimlet?« Das war Tante Mags krächzende Stimme. Josie bekam weiche Knie. Hastig sah sie sich um. Am liebsten wäre sie weggelaufen – Hauptsache, sie musste diese furchtbare Stimme nicht mehr hören. »Bitte verzeihen Sie, dass wir Sie belästigen, aber wir sind Verwandte des Großen Cardamom, der vor kurzem verstorben ist.«
»Du meine Güte. Cardamom ist tot?«, erwiderte Gimlet. »Was für eine traurige Nachricht. Er war ein guter Freund.«
Josie bemerkte einen Schatten. Sie drückte sich so eng wie möglich an die Wand. Über ihr am Fenster zeichnete sich die dunkle Gestalt von Tante Jay ab. Zitternd biss Josie sich auf die Lippen.
»Deshalb dachten wir uns, dass Sie unsere große Sorge teilen würden«, ertönte Tante Veronicas Stimme von nebenan, während Tante Jays hässlicher schwarzer Schatten sich auf der gegenüberliegenden Wand ausbreitete. »Das junge Mädchen, dessen Vormund unser verstorbener Bruder war, ist nämlich verschwunden.«
»Und wir müssen sie unbedingt finden«, ergänzte Tante Mag. Josie erstarrte, als sie sah, wie Tante Jay mit ihrer Hakennase und ihren langen Fingernägeln über die Scheibe wanderte, auf der Suche nach einem Spalt. »Um unseren …
Verpflichtungen
ihr gegenüber nachzukommen.«
»Sie hat ein wenig seltsame Neigungen, und ich fürchte, der Kummer hat das arme Kind um den Verstand gebracht«, fuhr Tante Veronica fort. Josie kniff die Augen zu und versuchte, mit der Wand zu verschmelzen. »Sie ist einfach davongelaufen, ohne irgendetwas mitzunehmen, und wir haben uns gefragt, ob sie vielleicht zu Ihnen gekommen ist.«
»Ich bedaure, meine Damen, aber da kann ich Ihnen leider nicht helfen«, erwiderte Gimlet. Tante Jay rüttelte versuchsweise am Fensterrahmen, und Josie hätte vor Angst beinahe aufgeschrien. »Ich kenne Josie gut, und der Gedanke, dass sie möglicherweise schutzlos durch die Straßen irrt, beunruhigt mich sehr. Ich werde mich meinerseits ein wenig umhören, und falls ich irgendetwas erfahre, gebe ich Ihnen Bescheid. Wohnen Sie in Cardamoms Haus?«
»Nein«, sagte Tante Mag. »Sie hören von uns, Mr Gimlet. Wir lassen Ihnen eine Nachricht zukommen, sobald wir eine Unterkunft gefunden haben.«
Erneut ertönte die Klingel, als die beiden die Werkstatt verließen. Auch Tante Jays dunkler Schatten verschwand, und Josie sank zitternd zu Boden.
Gimlet sah blass aus, als er zurückkam. »Sie wirkten nicht sehr überzeugt, Josie. Das war ganz schön knapp.« Mit einem Seufzer ließ er sich auf seinen Stuhl sinken.
»Tante Jay war draußen am Fenster«, stammelte Josie. »Ich dachte, sie würde hereinkommen!«
»Keine Angst, Mädchen«, sagte Gimlet. Sie lief zu ihm, under schloss sie in die Arme. »Ich passe schon auf dich auf, aber ich glaube, wir bringen dich besser woanders hin.«
»Aber wohin denn?«, fragte Josie ratlos. Sie sah, wie Gimlet anfing zu grinsen, und wich zurück. »Oh nein! Nicht zu dem alten Dickbauch – und erst recht nicht zu diesem grässlichen Jungen! Da müsstest du mich schon in eine Kiste packen!«
»Genau das hatte ich vor«, erwiderte Gimlet und stand auf.
»Nein, Gimlet, das kann ich nicht! Ich hasse Kisten!« Josie starrte auf den Sarg, der auf Gimlets Karre lag.
»Sieh mal nach draußen«, sagte Gimlet und legte ihr die Hand auf die Schulter. Der graue Himmel verdunkelte sich zusehends, doch trotz des Zwielichts konnte man auf den Dächern zahllose Raben, Dohlen und Krähen erkennen, die krächzend und flügelschlagend um einen Platz rangen. »Vielleicht bilde ich es mir ja nur ein, aber ich vermute, die Vögel da oben beobachten uns im Auftrag der Tanten. Vorhin haben wir Glück gehabt, aber was gibt es für eine bessere Deckung als Gimlet, der ein paar Särge zum Leichenbestatter bringt?«
Josie zog eine Grimasse, kletterte widerstrebend in die einfache Holzkiste und legte sich hin. Gimlet schob den Deckel darauf. Die Finsternis und die Enge im Innern waren beklemmend. Es rumste ein paarmal, als Gimlet einige weitere Särge obendrauf packte, dann setzte sich der Karren mit einem Ruck in Bewegung.
Die Luft in der Kiste wurde kühler. Josie konnte die Geräusche der Straße hören: Händler, die vor dem Ende des Tages ihre letzten Waren feilboten, Gesprächsfetzen von Passanten. Sie wurde unsanft hin und her geworfen, als der Karren über Kopfsteinpflaster und Rinnsteine holperte.Schließlich kreuzte sie die Hände über der Brust, um sie sich nicht immer wieder an den
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