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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Mayhew
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Suffolk
(The Suffolk Miracle),

altes Volkslied

9. KAPITEL

Nächtlicher Besuch
    Josie setzte sich auf dem schmalen Sofa in Wiggins’ Wohnzimmer auf, wo sie ihr Nachtlager hatte, und blickte sich im Raum um: ein Sessel, ein kleiner Tisch, eine Schusterpalme auf dem Fensterbrett. Wiggins hatte Feuer im Kamin gemacht, doch mittlerweile erhellten nur noch ein paar schwache Flammen die Dunkelheit.
    Sie hatte das Gefühl, als wäre in ihrem Bauch ein riesiges Loch. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie nahm Cardamoms Brief heraus und las ihn erneut in dem Dämmerlicht, obwohl sie die Worte bereits auswendig wusste. Etwas daran ließ ihr keine Ruhe, so wie wenn ihr ein Name nicht einfallen wollte – sie konnte spüren, dass er da war, aber sie kam nicht an ihn heran.
    Sie schob den Brief in die Ritze an der Seite des Sofas, stand auf und ging zur Tür, die hinunter in den Laden führte. Von unten schimmerte ein schwaches Licht herauf. Da war jemand. Josie sah hinüber zu Wiggins’ Schlafzimmer. Er war nicht herausgekommen; das hätte sie gemerkt. Also musste es Alfie sein. Sie holte tief Luft und trat leise hinaus in den Flur. Dann schlich sie die Treppe hinunter.
    Der Laden war leer. Nur der Mond warf ein silbriges Licht auf den Tresen und die Sargdeckel, die daran lehnten. Dochhinter dem Vorhang, der zum hinteren Raum führte, leuchtete Kerzenschein hervor. Vorsichtig trat Josie näher und spähte durch den Schlitz.
    Der Raum sah genauso aus wie am Nachmittag, nur dass jetzt Schatten an den Wänden tanzten; es sah aus, als würden die Glasflaschen und Instrumente auf den Regalen auf und ab hüpfen.
    Doch Josies Blick wurde von der Gestalt in der Mitte des Raumes angezogen.
    Alfie stand über die Leiche gebeugt, und sein Gesicht schien im Schein der Kerze zu glühen. Von seinen Augen war nur noch das Weiße zu sehen, sein Mund war verzerrt, und er bebte am ganzen Körper, während er den ausgestreckten Zeigefinger auf die Leiche richtete. Josies spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte, als sich die Hand der Toten zu bewegen begann. Am liebsten wäre sie schreiend weglaufen, aber sie blieb wie gelähmt stehen und sah zu, wie sich der Arm der Leiche langsam hob. Dann wurde Alfie von einem heftigen Zucken geschüttelt und kippte um. Der Arm fiel zurück auf den Tisch. Alfie lag reglos am Boden.
    Nach einer Schrecksekunde lief Josie zu ihrem Bruder, der stöhnend wieder zu sich kam.
    »Hast du das gesehen?«, ächzte er.
    »Was in Gottes Namen hast du da gemacht?«, fragte Josie. Alfie sah aus, als hätte er Fieber; seine Stirn glänzte vor Schweiß, aber das Zittern hatte nachgelassen.
    »Die Toten auferstehen lassen.« Alfies Kichern verwandelte sich in einen bellenden Husten. »Hast du gesehen, wie sich ihr Arm gehoben hat?«
    »Wenn das wieder einer von deinen albernen Streichen ist …«
    »Nein!«, sagte Alfie. »Das ist kein Trick. Ich kann’s wirklich.«
    »Aber wie … warum?« Josie glaubte ihm, dass es kein Scherz war. Er sah völlig erschöpft aus und schien entsetzt über das, was er getan hatte.
    »Keine Ahnung.« Mühsam rappelte er sich hoch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Es ist ein Fluch … Es passiert einfach irgendwie. Auch früher schon, aber je älter ich werde, desto öfter.«
    »Die Kröte heute Morgen.« Josie schüttelte sich bei der Erinnerung an das mumifizierte Tier, das Alfie mit seinem Finger angestupst hatte. »Sie hat sich bewegt.«
    »Ja.« Alfie nickte. »Sie war schon ziemlich vertrocknet, deshalb hat nur noch das eine Bein reagiert. Ein kleiner Rest Haut oder Knochen reicht, um sie zurückzuholen. Kleine Tiere sind einfach, aber eine richtige Leiche ist schon ganz schön anstrengend.«
    »Das ist widerlich.« Josie starrte ihren Bruder finster an.
    »Ich mach’s ja nicht aus Jux.« Alfie starrte ebenso finster zurück. »Ich versuche bloß, das Ganze zu verstehen. Ich will wissen, warum es passiert und … und ob ich es kontrollieren kann.«
    »Kontrollieren?«, fragte sie. Ihr Herz pochte.
    »Manchmal, wenn ich an einer Leiche vorbeigehe, merke ich, wie sie an mir zieht, die Kraft aus mir raussaugt. Und dann fängt sie an zu zucken oder zu stöhnen.« Alfies Gesicht war totenbleich. »Ich hab versucht, Wiggins davon zu erzählen, aber er merkt nichts. Blind wie ein Maulwurf. Er sagt immer, das sind bloß Gase oder Muskelspannungen. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Es ist schrecklich, und ich weiß nicht, warum es passiert. Ich dachte, wenn ichmehr

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