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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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farblich sortierte Putzlappen in der Küche, einen
Notizblock neben dem Telefon mit einem Stift, der nie verschwindet, und keinen
einzigen Briefumschlag mit Strichmännchen oder Adressen und hastig
hingekritzelten Namen von Leuten, deren Anrufe man schon wieder vergessen hat.
Alles blitzsauber. Kein Wunder, dass ich als Kind den Verdacht hatte, meine
Eltern hätten mich adoptiert.
    Selbst die
Umräumaktion meines Vaters hatte nur ein überaus bescheidenes Maß an Chaos
produziert: etwa zwei Dutzend Kartons mit säuberlich aufgeklebten Zetteln, auf denen
der Inhalt angegeben war, sowie ein Stapel alter Elektrogeräte in Originalverpackungen,
die sich im Lauf von dreißig Jahren angesammelt hatten. Natürlich konnte das
Zeug nicht auf Dauer im Flur stehen bleiben, und da mein Vater noch bettlägerig
war und ich an den Wochenenden nicht viel zu tun hatte, fiel mir der Job zu.
Ich stürzte mich mit Elan in die Arbeit und ließ mich nur ein einziges Mal
ablenken, als ich auf einen Karton mit der Aufschrift Edies Sachen stieß und nicht widerstehen konnte, ihn zu öffnen.
Er war voll mit längst vergessenen Dingen: Makkaroni-Schmuck mit abblätternder
Farbe, eine Schmuckdose aus Porzellan mit Feenmuster und ganz unten, unter
allem möglichen Krimskrams und alten Büchern, mein illegal erworbenes, heiß
geliebtes, lange vermisstes Buch vom Modermann.
    Das
kleine, abgegriffene Buch in meinen Händen löste eine Flut von Erinnerungen
aus; das Bild von mir als Zehnjähriger, wie ich auf dem Sofa liege, war so klar
und deutlich, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte es über die Jahre hinweg
mit dem Finger berühren und Wellen darin verursachen. Ich konnte die angenehme
Stille des Sonnenlichts spüren, das durchs Fenster hereinfiel, die vertraute,
warme Luft riechen: Papiertaschentücher und Zitronenwasser und herrliche
mütterliche Fürsorge.
    Dann sah
ich meine Mutter ins Zimmer kommen, noch im Mantel, ein Einkaufsnetz mit
Lebensmitteln in der Hand. Sie kramte etwas aus dem Netz und hielt es mir hin,
ein Buch, das meine Welt verändern sollte. Ein Buch, geschrieben von dem
Gentleman, in dessen Haus sie während des Zweiten Weltkriegs einquartiert war
...
    Nachdenklich
fuhr ich mit dem Daumen über die geprägten Buchstaben auf dem Buchdeckel:
Raymond Blythe. Vielleicht muntert dich das ein
bisschen auf, hatte meine Mutter gesagt. Es ist eigentlich für etwas ältere Kinder, glaube ich, aber du bist ja ein
kluges Mädchen, und wenn du dir Mühe gibst, wirst du es schon verstehen. Mein Leben
lang hatte ich geglaubt, die Bibliothekarin Miss Perry hätte mich auf den
richtigen Weg gebracht, aber als ich dort auf dem Holzfußboden des Dachbodens
saß, den Modermann in den
Händen, begann ein ganz anderer Gedanke in dem fahlen Licht Gestalt anzunehmen.
War es möglich, dass ich mich die ganze Zeit geirrt hatte? Dass Miss Perry
vielleicht nichts anderes getan hatte, als den Titel nachzuschlagen und das
Buch aus dem Regal zu nehmen, und dass es in Wirklichkeit meine Mutter gewesen
war, die mir das perfekte Buch genau zum richtigen Zeitpunkt gegeben hatte?
Und würde ich es wagen, sie danach zu fragen?
    Das Buch
war schon alt gewesen, als es zu mir gekommen war, und ich hatte es mit
Leidenschaft immer und immer wieder gelesen, und so war es kein Wunder, dass
es mittlerweile ziemlich zerfleddert war. Zwischen den zerbröckelnden Deckeln
befanden sich dieselben Seiten, die ich umgeblättert hatte, als die Welt, die
darauf beschrieben wurde, noch ganz neu für mich war, als ich noch nicht
wusste, wie die Geschichte für Jane und ihren Bruder und den armen, traurigen
Mann im Schlamm des Schlossgrabens enden würde.
    Seit
meiner Rückkehr aus Milderhurst hatte ich darauf gebrannt, es noch einmal zu
lesen. Ich holte kurz Luft, schlug es irgendwo auf und begann in der Mitte der
stockfleckigen Seite: Die Kutsche,
die sie zu ihrem Onkel bringen sollte, dem sie noch nie begegnet waren, brach
am Abend in London auf und fuhr die ganze Nacht durch, bis sie im Morgengrauen
an eine verwilderte Zufahrt gelangten. Ich las weiter, wurde neben Jane
und Peter in der Kutsche hin und her gerüttelt. Wir fuhren durch das alte,
quietschende Tor, die lange, gewundene Zufahrt hinauf, und dann, oben auf dem
Hügel, erhob es sich vor uns in dem melancholischen Morgenlicht. Schloss
Bealehurst. Ein Schauder der Vorfreude überlief mich, als ich mir vorstellte,
was ich in seinem Innern vorfinden würde. Der Turm überragte das Dach, Fenster
hoben sich dunkel

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