Morton, Kate
Lieblingsbuch.«
»Wovon
handelt es denn?«
Ich war
verblüfft. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mein Vater mich jemals nach dem
Inhalt eines Buchs gefragt hatte. »Es handelt von zwei Waisenkindern«, sagte
ich. »Ein Mädchen namens Jane und ein Junge namens Peter.«
Er
runzelte die Stirn. »Da wird wohl noch ein bisschen mehr drinstehen, schätze
ich. So dick, wie das aussieht, hat es eine Menge Seiten.«
»Natürlich
- ja. Es ist eine lange Geschichte.« Gott, wo sollte ich anfangen? Pflicht und
Verrat, Abwesenheit und Sehnsucht, was ein Mensch auf sich zu nehmen bereit
ist, um seine Lieben zu beschützen, Wahnsinn, Treue, Ehre, Liebe ... Ich
schaute meinen Vater an und beschloss, mich auf die Handlung zu beschränken.
»Die Eltern dieser Kinder kommen bei einem Hausbrand in London ums Leben, und
dann werden die beiden Waisen zu einem längst vergessenen Onkel geschickt, der
in einem Schloss lebt.«
»In einem
Schloss?«
Ich
nickte. »Schloss Bealehurst. Der Onkel ist ein netter Mann, und anfangs sind
die Kinder ganz begeistert von dem Schloss, aber mit der Zeit finden sie heraus,
dass da irgendetwas nicht stimmt, dass das alte Gemäuer ein altes, dunkles Geheimnis
birgt.«
»Alt und
dunkel, so, so.« Er lächelte schwach.
»Ja, und
ganz schrecklich.«
Ich hatte
es schnell gesagt, aufgeregt, und mein Vater rückte ein bisschen näher und
stützte sich auf seine Ellbogen. »Und? Was ist es?«
»Was ist
was?«
»Na, das
Geheimnis. Was ist es?«
Ich sah
ihn verdutzt an. »Also, das kann ich dir nicht einfach so ... erzählen.«
»Natürlich
kannst du das.«
Er
verschränkte die Arme wie ein trotziges Kind, während ich nach Worten suchte,
um ihm den Vertrag zwischen Leser und Autor zu erklären und dass es nicht um
bloßes Wissenwollen geht. Dass es ein Sakrileg war, knapp aufzulisten, was
sich über Kapitel hinweg aufgebaut hat, Geheimnisse auszuplaudern, die der
Autor hinter zahllosen Kunstfertigkeiten verborgen hat. Alles, was ich
herausbrachte, war: »Ich kann es dir leihen, wenn du möchtest.«
Er zog
einen Schmollmund. »Vom Lesen krieg ich Kopfschmerzen.«
Ein
beinahe peinliches Schweigen entstand, während er darauf wartete, dass ich
nachgab, und ich mich - was blieb mir anderes übrig? — verweigerte. Schließlich
seufzte er. »Vergiss es«, sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ist nicht so wichtig.«
Aber er
wirkte so betrübt, und plötzlich erinnerte ich mich so intensiv daran, wie ich,
als ich mit Mumps oder was auch immer im Bett gelegen hatte, in die Welt vom Modermann eingetaucht war, dass ich sagte: »Wenn es dich
wirklich interessiert, könnte ich dir das Buch ja vorlesen.«
Das
Vorlesen des Modermann wurde uns
zur Gewohnheit, etwas, worauf ich mich jeden Tag freute. Nach dem Abendessen
trug ich das Tablett meines Vaters in die Küche, half meiner Mutter beim
Abwasch, und dann las ich an der Stelle weiter, wo wir am Abend zuvor aufgehört
hatten. Er war selbst verblüfft darüber, dass eine erfundene Geschichte ihn so
fesseln konnte. »Sie muss auf wahren Begebenheiten beruhen«, sagte er immer
wieder, »vielleicht auf einem alten Entführungsfall. Wie diese Geschichte von
dem Lindbergh-Baby.«
»Nein,
Dad, Raymond Blythe hat sich die Geschichte einfach ausgedacht.«
»Aber sie
ist so lebendig, Edie, ich sehe alles direkt vor mir, wenn du es vorliest, so
als würden wir zusehen, als würde ich die Geschichte schon kennen.« Und wenn er
dann verwundert den Kopf schüttelte, glühte ich vor Stolz, obwohl ich mit der
Entstehung des Modermann nun
wirklich nichts zu tun hatte. Hin und wieder, wenn ich länger im Verlag bleiben
musste, wurde er ganz ungeduldig, ging meiner Mutter mit seiner Nörgelei auf
die Nerven, wartete darauf, dass er hörte, wie ich die Haustür aufschloss,
bimmelte dann sofort mit seinem Glöckchen und tat verwundert, wenn ich in sein
Zimmer kam. »Ach, du bist schon da, Edie?«, sagte er dann mit hochgezogenen Brauen.
»Ich wollte eigentlich nur deine Mutter bitten, mir das Kopfkissen noch mal
aufzuschütteln. Aber wo du schon mal da bist, könnten wir doch sehen, wie es im
Schloss weitergeht.«
Vielleicht
war es wirklich das Schloss und weniger die Geschichte selbst, was ihn bei der
Stange hielt. Prächtige Familienanwesen hatten ihn schon immer mit fast
eifersüchtigem Respekt erfüllt, und nachdem ich einmal beiläufig bemerkt hatte,
dass Schloss Bealehurst dem Familiensitz von Raymond Blythe nachempfunden war,
ließ er nicht mehr
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