Morton, Kate
fotografiert worden. Hübsche Kinder in altmodischer Kleidung,
Picknicks an einem glitzernden Teich, ein paar Schwimmer, die vor dem Schlossgraben
nebeneinander posierten, ernste Blicke von Menschen, für die es noch an
Zauberei grenzte, dass man ihre Gesichter auf Papier bannen konnte.
Ich schlug
die erste Seite auf und begann zu lesen.
Kapitel 1: Der Mann aus Kent
Manche behaupteten, der Modermann sei nie geboren worden, sondern immer
da gewesen, so wie der Wind und die Bäume und die Erde; aber sie irrten sich.
Alle Lebewesen werden geboren, alle Lebewesen haben ein Zuhause, und das war
beim Modermann nicht anders.
Es gibt
Autoren, für die die Literatur eine Gelegenheit darstellt, unsichtbare Berge zu
erklimmen und herrliche Fantasiereiche zu beschreiben. Für Raymond Blythe jedoch
stellte die eigene häusliche Umgebung die wichtigste und dauerhafteste Quelle
der Inspiration dar, sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk. Die Briefe
und Artikel, die er im Lauf von siebzig Jahren verfasste, kreisen stets um ein
und dasselbe Thema: Raymond Blythe war zweifellos ein heimatverbundener Mensch,
für den das Land, das seine Vorfahren seit Generationen ihr Eigen nannten, einen
Ort darstellte, wo er Ruhe, Zuflucht und letztlich seinen Glauben fand. Selten
wurden die eigenen vier Wände eines Autors so eindeutig für fiktive Zwecke
verwendet wie in Blythes Schauerroman für junge Menschen Die wahre Geschichte vom Modermann. Doch schon lange bevor er sein
wichtigstes Werk schrieb, hatte das Schloss, das sich mitten in der Grafschaft
Kent stolz auf seinem fruchtbaren Hügel erhob, umgeben von urbaren Feldern,
dunklen, wispernden Wäldern und den Lustgärten, über denen das Schloss heute
noch thront, dazu beigetragen, aus Raymond Blythe den Mann zu machen, der er
später sein sollte.
Raymond
Blythe wurde am heißesten Tag des Sommers 1866 in einem Zimmer im zweiten Stock von Schloss Milderhurst
geboren. Er war das erste Kind von Robert und Athena Blythe und wurde nach
seinem Großvater väterlicherseits benannt, der seinen Reichtum auf den Goldfeldern
Kanadas erworben hatte. Raymond war der älteste von vier Brüdern, von denen der
jüngste, Timothy, während eines heftigen Gewitters im Jahr 1876 auf tragische Weise ums Leben kam. Athena Blythe, die sich
als Lyrikerin einen gewissen Ruf erwarb, war untröstlich über den Tod ihres
jüngsten Sohnes und versank, so hieß es, kurz nach der Beerdigung des Kindes in
eine tiefe Depression, von der sie sich nie wieder erholte. Sie nahm sich das
Leben, indem sie vom Turm von Schloss Milderhurst sprang, und ließ ihren Mann,
ihre Dichtung und ihre drei kleinen Söhne zurück.
Auf der
gegenüberliegenden Seite befand sich ein Foto von einer schönen Frau mit
kunstvoll arrangiertem dunklen Haar, die sich aus einem Fenster lehnt und vier
kleine, der Größe nach aufgereihte Jungen betrachtet. Das Foto war auf das Jahr 1875 datiert und besaß die Unscharfe,
die so typisch ist für viele frühe Amateurfotos. Der kleinste Junge, Timothy,
muss sich bewegt haben, als die Aufnahme gemacht wurde, denn sein lächelndes
Gesicht war verschwommen. Der arme Kleine, er ahnte nicht, dass er nur noch
wenige Monate leben würde.
Ich
überflog die nächsten Absätze - unnahbarer viktorianischer Vater, Schulzeit in
Eton, ein Stipendium für Oxford -, bis Raymond Blythe das Erwachsenenalter
erreicht.
Nachdem er 1887 sein Studium in Oxford
abgeschlossen hatte, zog Raymond Blythe nach London, wo er zunächst als Autor
für das Magazin Punch arbeitete.
Im Lauf des folgenden Jahrzehnts veröffentlichte er zwölf Theaterstücke, zwei
Romane und eine Sammlung mit Kindergedichten, aber aus seinen Briefen geht
hervor, dass er trotz seines literarischen Erfolgs in London unglücklich war
und sich nach der grünen Landschaft seiner Kindheit zurücksehnte.
Es ist
anzunehmen, dass das Stadtleben für Raymond Blythe erträglicher wurde, nachdem
er 1895 Miss
Muriel Palmerston geheiratet hatte, eine allseits bewunderte junge Frau, von
der es hieß, sie sei »die hübscheste Debütantin des Jahres«, und in der Tat
lassen seine Briefe aus jener Zeit auf einen deutlichen Sinneswandel schließen.
Raymond Blythe wurde Miss Palmerston von einem gemeinsamen Bekannten
vorgestellt, und nach allem, was man darüber weiß, passten die beiden gut
zusammen. Sie teilten dieselben Interessen, Aktivitäten an der frischen Luft,
Wortspiele und Fotografie, und gaben ein ausnehmend hübsches Paar ab,
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