Morton, Kate
Ordnung war, so wie sie war,
und Percy war das alles gleichgültig. Sie sagte, alle Menschen seien eben
verschieden, und warum in aller Welt man sie in Kategorien wie normal oder
nicht normal einteilen müsse?
Jedenfalls
hatte Juniper sich eigentlich nicht auf die Schaukel gesetzt, um sich in
Sicherheit zu bringen, sondern weil sie von dort aus den besten Blick auf die
Erscheinung im Teich hatte. Sie war neugierig, und er war schön. Seine Haut so
glatt, die Brustmuskeln, die sich beim Atmen hoben und senkten, so
wohlgeformt, seine Arme so sehnig. Wenn er tatsächlich ein Produkt ihrer
Fantasie war, dann hatte sie ihn richtig gut hingekriegt. Er war exotisch und
entzückend, und sie wollte ihn anschauen, bis er sich vor ihren Augen wieder in
Licht und Laub verwandelte.
Aber das
war nicht passiert. Als sie dort auf der Schaukel gesessen hatte, den Kopf an
das Seil gelehnt, hatte er plötzlich die Augen geöffnet und etwas gesagt.
Nicht dass
so etwas noch nie vorgekommen wäre; die Besucher hatten schon oft mit Juniper
gesprochen, aber zum ersten Mal war einer in Gestalt eines jungen Mannes zu ihr
gekommen. Noch dazu eines jungen Mannes, der fast nichts anhatte.
Sie hatte
ihm geantwortet, in knappen Worten. Sie war irritiert gewesen. Sie hatte nicht
gewollt, dass er mit ihr redete, sie hatte sich gewünscht, er würde die Augen
wieder schließen und sich auf dem glitzernden Wasser treiben lassen, damit sie
die Voyeurin spielen konnte. Damit sie sehen konnte, wie das Sonnenlicht auf
seinen langen Gliedmaßen tanzte, auf seinem stillen, schönen Gesicht, damit
sie sich auf die seltsame Empfindung konzentrieren konnte, ein Gefühl, als
wäre eine Saite zum Klingen gebracht worden, tief unten in ihrem Bauch.
Sie kannte
nicht viele Männer. Daddy natürlich - aber der zählte nicht. Ihren Patenonkel
Stephen, ein paar alte Gärtner, die über die Jahre auf dem Anwesen gearbeitet
hatten, und Davies, der den Daimler immer auf Hochglanz poliert hatte.
Aber das
war anders.
Juniper
hatte versucht, den Mann zu ignorieren, in der Hoffnung, er würde es kapieren
und aufhören, mit ihr ins Gespräch kommen zu wollen, aber er hatte sich nicht
beirren lassen. Er hatte ihr seinen Namen genannt, Thomas Cavill. Die anderen
hatten keine Namen. Jedenfalls keine normalen.
Schließlich
war sie selbst in den Teich gesprungen, und er war aus dem Wasser geflüchtet.
Erst da waren ihr die Kleider aufgefallen, die auf der Liege lagen. Seine
Kleider, und das war wirklich merkwürdig gewesen.
Und dann
war das Merkwürdigste überhaupt geschehen. Meredith war gekommen - von Saffy
endlich aus dem Nähzimmer entlassen - und hatte angefangen, sich mit dem Mann
zu unterhalten.
Juniper,
die ihnen vom Wasser aus zugesehen hatte, wäre vor Schreck beinahe ertrunken,
denn eins stand fest: Niemand außer ihr konnte ihre Besucher sehen.
Juniper
wohnte schon ihr Leben lang auf Schloss Milderhurst. Ebenso wie ihr Vater und
ihre Schwestern war sie in einem Zimmer im ersten Stock geboren worden. Sie
kannte das Schloss und die umgebenden Ländereien so gut, wie man es von
jemandem erwarten würde, der nichts als die eigene Welt kennt. Sie wurde
beschützt und geliebt und verhätschelt. Sie las, und sie schrieb, und sie
spielte, und sie träumte. Es wurde nichts von ihr erwartet, außer die zu sein,
die sie war. Aber das umso mehr.
»Du, meine
Kleine, bist ein Schlossgeschöpf«, hatte Daddy oft zu ihr gesagt. »Du bist wie
ich.« Und lange Zeit war Juniper mit dieser Beschreibung vollkommen zufrieden
gewesen.
Aber aus
unerfindlichen Gründen hatte in letzter Zeit alles angefangen, sich zu
verändern. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht mit einem unerklärlichen
Ziehen in ihrem Innern auf, mit einem Verlangen wie Hunger, aber worauf, das
wusste sie nicht. Unzufriedenheit, Sehnsucht, eine tiefe, gähnende Leere, und
sie wusste nicht, wie sie sie füllen sollte. Sie hätte nicht einmal sagen
können, was genau ihr fehlte. Sie war spazieren gegangen, und sie war über die
Wiesen gerannt, sie hatte geschrieben, hastig und ungestüm. Worte, Geräusche
hatten in ihrem Kopf getobt und verlangt, freigelassen zu werden, und sie alle
niederzuschreiben war eine Erleichterung gewesen. Sie quälte sich nicht mit
Formulierungen herum, sie grübelte nicht über Wörtern, sie las nie noch einmal,
was sie geschrieben hatte, es reichte, die Wörter zu befreien, damit die
Stimmen in ihrem Kopf schwiegen.
Dann, eines
Tages, hatte sie das Bedürfnis empfunden, ins
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