Morton, Kate
auf taube Ohren stießen. Seit meiner Kindheit war ich davon überzeugt, dass
ich aus der Art geschlagen war. Nie hatte meine Mutter auch nur angedeutet,
dass sie selbst auch einmal schriftstellerische Ambitionen gehabt hatte. Rita
hatte es natürlich erwähnt, aber bis zu dem Augenblick, als ich Junipers Brief
in den Händen hielt, während meine Mutter mich nervös beobachtete, hatte ich
ihr im Grunde nicht geglaubt. Ich gab meiner Mutter den Brief zurück und
schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte. »Du hast also
früher geschrieben.«
»Ach, das
war nur eine kindische Marotte, das hat sich mit der Zeit gegeben.«
Aber an
der Art, wie sie meinem Blick auswich, erkannte ich, dass es wesentlich mehr
gewesen war. Ich hätte gern weitergebohrt, sie gefragt, ob sie immer noch hin
und wieder etwas schrieb, ob sie ihre Geschichten aufgehoben hatte, ob sie sie
mir zeigen würde. Aber ich ließ es bleiben. Sie starrte so traurig auf den
Brief, dass ich es nicht fertigbrachte. Stattdessen sagte ich: »Ihr wart gute
Freundinnen.«
»Ja.«
Ich liebte
sie, hatte meine Mutter gesagt. Meine
erste und einzige Freundin, hatte Juniper geschrieben. Und
doch hatten sie sich 1941 voneinander
verabschiedet und nie wieder Kontakt zueinander aufgenommen. »Was meint
Juniper, Mum? Was glaubst du, was sie damit meint, etwas sei geschehen?«
Meine
Mutter strich den Brief glatt. »Ich nehme an, sie meint, dass Mr. Cavill mit
einer anderen Frau durchgebrannt ist. Das hast du mir doch erzählt.«
Das
stimmte, aber nur, weil ich es in dem Moment geglaubt hatte. Inzwischen, nach
meinem Gespräch mit Theo Cavill, glaubte ich das nicht mehr. »Und worauf spielt
sie am Ende an?«, fragte ich. »Als sie schreibt, du hättest sie gefragt, wovor
sie sich fürchtet? Was meint sie damit?«
»Das ist
ein bisschen merkwürdig«, sagte meine Mutter. »Ich nehme an, dieses Gespräch
war in ihren Augen bedeutsam für unsere Freundschaft. Wir haben viel Zeit
miteinander verbracht, so viel gemeinsam unternommen ... Ich weiß auch nicht,
warum sie ausgerechnet den Nachmittag auf dem Dach besonders hervorhebt.« Als
sie mich anschaute, sah ich, dass sie tatsächlich ratlos war. »Juniper war
ziemlich verwegen, sie hatte keine Angst vor Dingen, vor denen andere sich
fürchten. Das Einzige, was ihr Angst machte, war die Vorstellung, so zu enden
wie ihr Vater.«
»Wie
Raymond Blythe? In welcher Hinsicht?«
»Das hat
sie mir nie gesagt, nicht genau. Er war ein verwirrter alter Herr, und er war
Schriftsteller, so wie sie - aber er glaubte, dass die Figuren aus seinen
Romanen lebendig geworden waren und ihn verfolgten. Ich bin ihm einmal per
Zufall begegnet. Ich war in einem Korridor falsch abgebogen und in die Nähe
seines Turms geraten. Er war wirklich Furcht einflößend. Vielleicht hat sie ja
das gemeint.«
Möglich.
Ich dachte an meinen Besuch in Milderhurst und an die Geschichten über Juniper,
die man mir erzählt hatte. An die verlorene Zeit, an die sie sich nicht
erinnerte. Mitzuerleben, wie ihr Vater im Alter den Verstand verlor, musste für
ein junges Mädchen, das ebenfalls Aussetzer hatte, in der Tat beängstigend
gewesen sein. Und es hatte sich ja auch herausgestellt, dass sie allen Grund
gehabt hatte, sich zu fürchten.
Meine
Mutter fuhr sich seufzend mit der Hand durchs Haar. »Und ich habe das Gefühl,
ich richte überall nur Unheil an. Juniper, Mr. Cavill - und jetzt siehst du
dir meinetwegen schon die Wohnungsanzeigen an.«
»Nein, das
stimmt nicht.« Ich lächelte. »Ich sehe mir die Wohnungsanzeigen an, weil ich
dreißig Jahre alt bin und nicht ewig zu Hause wohnen kann, egal, wie viel
besser der Tee schmeckt, wenn du ihn machst.«
Jetzt
musste sie auch lächeln, und ich empfand tiefe Zuneigung zu ihr, ein Erwachen
von Gefühlen, die lange in mir geschlummert hatten.
»Wenn,
dann bin ich hier die Unheilstifterin. Ich hätte deine Briefe nicht lesen
dürfen. Kannst du mir das verzeihen?«
»Was für
eine Frage.«
»Ich
wollte dich nur besser kennenlernen, Mum.«
Sie
berührte meine Hand ganz zart, und ich wusste, dass sie verstanden hatte. »Ich
höre deinen Magen bis hier knurren, Edie«, war alles, was sie sagte. »Komm,
lass uns in die Küche gehen, dann mache ich dir etwas Leckeres zu essen.«
Eine
Einladung und eine Neuauflage
Während ich mir
den Kopf darüber zerbrach, was zwisc hen Thomas und Juniper vorgefallen
war und ob ich je eine Chance bekommen würde, das herauszufinden, passierte
etwas
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