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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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eingeredet, um einen Blick auf die Tür, die Mauern, die Fenster
zu werfen, hinter denen sie schlief.
    Stundenlang
hatte er vor dem Haus gewartet und eine Zigarette nach der anderen geraucht,
bis sie endlich herausgekommen war. Tom war ihr eine Weile gefolgt, bis er
sich schließlich ein Herz gefasst und ihren Namen gerufen hatte.
    »Juniper.«
    Er hatte
ihn so oft gesagt, gedacht, aber es war anders, als er ihn jetzt laut aussprach
und sie sich umdrehte.
    Sie
verbrachten den ganzen sonnigen Tag miteinander, gingen spazieren, redeten,
pflückten Brombeeren von den Sträuchern, die über die Friedhofsmauern
wucherten, und als es Abend wurde, brachte Tom es einfach nicht fertig, sie
gehen zu lassen. Er schlug vor, tanzen zu gehen, weil er glaubte, dass junge
Frauen sich dafür begeisterten. Nicht so Juniper. Ihr angewiderter
Gesichtsausdruck war so arglos, dass es Tom die Sprache verschlug. Als er sich
wieder gefasst hatte und sie fragte, was sie stattdessen lieber tun wollte,
antwortete Juniper, sie könnten doch einfach weiter spazieren gehen. Die Gegend
erkunden, so hatte sie es genannt.
    Tom war es
gewohnt, zügig zu gehen, und sie hielt mühelos Schritt, lief mal links, mal
rechts neben ihm her, bald lebhaft redend, bald schweigend. Mit ihrer
Unberechenbarkeit und Unbekümmertheit erinnerte sie ihn an ein Kind, und er
wurde das mulmige und zugleich verführerische Gefühl nicht los, dass er sich
auf jemanden einließ, für den normale Verhaltensregeln keine Bedeutung hatten.
    Immer
wieder blieb sie unvermittelt stehen, um sich etwas anzusehen, und holte ihn
dann im Laufschritt wieder ein, ohne auf den Weg zu achten, und er fürchtete
schon, dass sie im Dunkeln in ein Loch im Pflaster treten oder über einen der
herumliegenden Sandsäcke stolpern könnte.
    »Hier ist
es anders als auf dem Land, weißt du«, erklärte er in ungewollt lehrerhaftem
Tonfall.
    Aber
Juniper lachte nur und sagte: »Das hoffe ich doch. Genau deshalb bin ich
hergekommen.« Sie erklärte ihm, sie habe Augen wie ein Adler, das habe etwas
mit dem Schloss und ihrer Erziehung zu tun. Tom konnte sich nicht mehr an die
Einzelheiten erinnern, er hatte irgendwann aufgehört zuzuhören. Die Wolken
hatten sich verzogen, und der volle Mond verlieh ihrem Haar einen silbrigen
Schimmer.
    Zum Glück
hatte sie ihn nicht dabei ertappt, wie er sie angesehen hatte. Sie hatte sich
unvermittelt hingehockt und angefangen, in einem Schutthaufen zu wühlen. Als
er näher ging, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, sah er, dass
sie inmitten all der Zerstörung ein Gewirr aus Geißblattpflanzen entdeckt
hatte, die zu Boden gefallen waren, als das Rankgitter umgestürzt war, und
trotzdem weiterwuchsen. Sie brach einen kleinen Trieb ab und schob ihn sich ins
Haar, während sie eine seltsame, liebliche Melodie vor sich hin summte.
    Als sie
bei Sonnenaufgang in seine Wohnung hochgegangen waren, hatte sie ein altes
Marmeladenglas mit Wasser gefüllt, den Zweig hineingesteckt und das Glas auf
die Fensterbank gestellt. Noch Nächte danach, wenn er allein in der warmen Dunkelheit
lag und die Gedanken an sie ihn nicht schlafen ließen, hatte er den süßen Duft
wahrgenommen. Und Tom musste denken, dass Juniper genauso wie diese Blume war.
Ein Wesen von unfassbarer Vollkommenheit in einer Welt, die in Trümmern
versank. Es war nicht nur ihr Aussehen, und es waren auch nicht nur die Dinge,
die sie sagte. Es war etwas anderes, ihr inneres Wesen, ihr Selbstvertrauen,
ihre Kraft, als wäre sie irgendwie mit dem Mechanismus verbunden, der die Welt
antrieb. Sie war wie der Windhauch an einem Sommertag, wie die ersten
Regentropfen, die auf die ausgedörrte Erde fielen, wie das Licht des
Abendsterns.
     
    Irgendetwas,
sie wusste nicht genau was, lenkte Junipers Blick hinunter auf die Straße. Tom
war da, früher, als sie ihn erwartet hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie
winkte ihm zu und wäre fast aus dem Fenster gefallen vor Freude, ihn zu sehen.
Er hatte sie noch nicht bemerkt. Er hielt den Kopf gesenkt, sah nach der Post,
aber Juniper konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Es war Wahnsinn, es war
Besessenheit, es war Verlangen. Aber vor allem war es Liebe. Juniper liebte
seinen Körper, sie liebte seine Stimme, sie liebte es, wie seine Finger ihre Haut
berührten, sie liebte die Stelle unter seinem Schlüsselbein, an die sie ihre
Wange schmiegte, wenn sie schliefen. Sie liebte es, in seinem Gesicht alle Orte
sehen zu können, an denen er gewesen war. Dass sie

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