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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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beugte
mich ein wenig vor und wartete auf die Erklärung, aber den Gefallen tat sie
mir nicht. Ich würde mich an diesem stürmischen Nachmittag noch an ihre
plötzlichen Themenwechsel gewöhnen, an die Art, wie sie eine bestimmte Szene
ins Licht rückte und zum Leben erweckte, nur um sich im nächsten Moment etwas
anderem zuzuwenden.
    »Ich bin
davon überzeugt, dass meine Eltern früher einmal glücklich gewesen sind«, sagte
sie, »bevor wir geboren wurden, aber es gibt zwei Sorten Menschen auf dieser
Welt. Die, die sich über Kinder freuen, und die, die das nicht tun. Mein Vater
gehörte zu der ersten Kategorie. Ich glaube, er war selbst überrascht vom Maß
seiner Zuneigung, als Saffy und ich auf die Welt kamen.« Als sie ihren Blick
wieder zu dem Goya wandern ließ, begann eine Sehne an ihrem Hals zu zucken. »Er
war ein anderer Mensch, als wir jung waren, vor dem Ersten Weltkrieg, bevor er
das Buch schrieb. Für seine Zeit und seine gesellschaftliche Stellung war er
ein ungewöhnlicher Mann. Er hat uns vergöttert - es war nicht einfach nur
Zuneigung, er lebte in uns und wir in ihm. Wir wurden verwöhnt. Wir wurden
überhäuft, nicht mit materiellen Werten, an denen wir ohnehin keinen Mangel
litten, sondern mit seiner Aufmerksamkeit und seinem Glauben an uns. Er dachte,
wir könnten nichts falsch machen, und war dementsprechend nachsichtig.
Wahrscheinlich ist es nie gut für Kinder, wenn sie so vergöttert werden ...
Möchten Sie ein Glas Wasser, Miss Burchill?«
    Ich
blinzelte verwirrt. »Nein. Danke.«
    »Aber ich,
wenn Sie gestatten. Meine Kehle ...« Sie legte die Zigarette im Aschenbecher
ab, nahm einen Krug von einem niedrigen Regal und füllte ein Kristallglas. Sie
schluckte geräuschvoll, und mir fiel auf, dass trotz ihres klaren, monotonen
Tonfalls und ihres durchdringenden Blicks ihre Finger zitterten. »Haben Ihre
Eltern Sie auch verwöhnt, als Sie klein waren, Miss Burchill?« »Nein«, sagte
ich. »Ich glaube nicht.«
    »Den
Eindruck habe ich auch nicht. Sie vermitteln nicht diese Anspruchshaltung
eines Kindes, das immer im Mittelpunkt gestanden hat.« Sie schaute wieder nach
draußen, wo immer mehr Wolken aufzogen. »Mein Vater hat uns beide in die alte
Kinderkarre gesetzt, in der er selbst schon als Kind gesessen hatte, und hat
lange Spaziergänge ins Dorf mit uns unternommen. Als wir älter wurden, ließ er
unseren Koch einen üppigen Picknickkorb zusammenstellen, und wir drei
erkundeten gemeinsam den Wald, spazierten über Felder, und dabei erzählte er
uns Geschichten und sprach mit großem Ernst von wundersamen Dingen. Dass das
hier unser Zuhause sei, dass die Stimmen unserer Vorfahren immer zu uns
sprechen würden, dass wir nie allein sein würden, solange wir in der Nähe
unseres Schlosses blieben.« Ein schwaches Lächeln deutete sich auf ihren
Lippen an. »In Oxford war er einer der Besten in alten Sprachen gewesen, und er
hatte eine besondere Vorliebe für das Angelsächsische. Er machte Übersetzungen,
einfach so zum Vergnügen, und schon von früh an durften wir ihm dabei helfen.
Meistens hier oben im Turm, aber manchmal auch unten im Garten. Eines Nachmittags
lagen wir zu dritt auf einer Picknickdecke, schauten hoch zum Schloss auf dem
Hügel, und er las uns aus Der Wanderer vor. Es
war ein perfekter Tag. Solche Tage waren selten, und es lohnt sich, sie im
Gedächtnis zu bewahren.« Sie schwieg eine Zeit lang, und ich bemerkte, dass
sich ihr Gesicht umso mehr entspannte, je tiefer sie in die Vergangenheit
eintauchte. Als sie schließlich fortfuhr, war ihre Stimme belegt. »Die Angelsachsen
hatten einen Hang zu Melancholie und Sehnsucht, und natürlich zu
Heldengeschichten. Kinder sind wohl sehr empfänglich für all diese Dinge.
>Seledreorig<.« Das Wort klang wie eine Beschwörungsformel in dem runden
Raum. »Trauer über das Fehlen eines Hauses«, sagte sie. »In der englischen
Sprache haben wir so ein Wort nicht ... eigentlich müsste es das geben, finden
Sie nicht auch? Aber ich schweife ab.«
    Sie
richtete sich in ihrem Sessel auf, griff nach der Zigarette, die jedoch schon
zu Asche geworden war. »So ist das mit der Vergangenheit«, sagte sie, während
sie sich eine neue Zigarette aus dem Päckchen fischte. »Immer bereit, einen auf
Abwege zu locken.« Sie zündete das Streichholz an, inhalierte ungeduldig und
blinzelte durch den Rauch. »Ab jetzt werde ich ein bisschen mehr auf der Hut
sein.« In dem Moment erlosch die Flamme, wie um diese Absicht zu
unterstreichen. »Meine

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