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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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Zimmer unter dem Dach befindet sich eine verborgene
Tür. Es ist der Eingang zu einem Labyrinth von Geheimgängen. Man kann darin
entlangkriechen, von Zimmer zu Zimmer, vom Dachboden bis ins Kellergewölbe,
wie eine Maus. Wenn man ganz leise ist, hört man es überall flüstern, aber man
kann sich auch in den Gängen verirren, wenn man nicht vorsichtig ist. Das sind
die Adern des Hauses.«
    Ich
schüttelte mich bei der Vorstellung, dass es sich bei dem Haus um ein
gewaltiges kauerndes Lebewesen handelte. Ein dunkles und namenloses Geschöpf,
das den Atem anhielt; die fette, alte Kröte aus einem Märchen, die auf die
Gelegenheit wartet, der Jungfrau einen Kuss abzuluchsen. Natürlich dachte ich
an den Modermann, die finstere und glitschige Gestalt, die aus dem
Schlossgraben auftaucht wie aus dem Styx, um sich das Mädchen hinter dem
Dachbodenfenster zu holen.
    »Als
Kinder haben Saffy und ich ein Spiel gespielt: Wir haben uns vorgestellt, dass
eine Familie, die vor uns hier wohnte, in diesen Gängen hauste und sich
weigerte auszuziehen. Wir haben sie die Hausgeister genannt, und immer, wenn
wir ein Geräusch hörten, das wir uns nicht erklären konnten, wussten wir, dass
sie es waren.«
    »Wirklich?«,
flüsterte ich.
    Sie musste
über meinen Gesichtsausdruck lachen, ein eigenartiges, humorloses Gackern, das
so unvermittelt abbrach, wie es begonnen hatte. »In Wirklichkeit gab es sie
natürlich nicht. Keine Sorge. Diese Geräusche, die Sie hören, stammen von
Mäusen. Davon haben wir hier weiß Gott genug.« Ein leichtes Zucken in ihrem
Augenwinkel, während sie mich betrachtete. »Wollen Sie sich den Schrank mit der
verborgenen Tür im Kinderzimmer vielleicht auch noch ansehen?«
    Ich
glaube, ich habe tatsächlich gequiekt. »Ja, unbedingt.«
    »Dann
kommen Sie mit. Es ist eine ziemliche Kletterpartie.«
     
    Das leere Dachzimmer und die fernen Stunden
     
    Die hatte
nicht übertrieben. Die Treppe wollte und wollte nicht enden und wurde nach
jedem Absatz enger und düsterer. Als ich schon glaubte, ich würde in einen
Zustand völliger Blindheit eintauchen, betätigte Percy Blythe einen Schalter,
und eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hoch oben baumelte,
spendete schummriges Licht. Jemand hatte nachträglich einen Handlauf an der
Wand angebracht, damit man den letzten steilen Anstieg gefahrlos bewältigen
konnte. Irgendwann in den Fünfzigerjahren, schätzte ich; ein Metallrohr,
einfach und zweckmäßig. Wer auch immer es wann auch immer angebracht hatte, ich
dankte ihm von Herzen. Jetzt bei Licht sah ich, dass die Stufen gefährlich
ausgetreten waren, und ich war froh, mich an etwas festhalten zu können.
Weniger angenehm war, dass ich jetzt auch all die Spinnweben sehen konnte. Hier
oben war schon lange niemand mehr gewesen, was sich die Schlossspinnen zunutze
gemacht hatten.
    »Unsere
Kinderfrau hatte immer eine Talgkerze dabei, wenn sie uns abends ins Bett
gebracht hat«, sagte Percy, während sie die letzten Stufen erklomm. »Der
Lichtschein flackerte auf den Wänden, und sie sang dieses alte Kinderlied. Sie
kennen es bestimmt: >Kennt ihr die Geschichte vom Mord im Schloss<.«
    Wo das Blut in Strömen die Treppe runterfloss. Natürlich
kannte ich es. Ein graues Spinnennetz streifte meine Schulter, und plötzlich
sehnte ich mich nach meinem winzigen Zimmer in meinem Elternhaus. Dort gab es
keine Spinnweben, nur alle zwei Wochen die übliche Putzaktion meiner Mutter und
den beruhigenden Geruch nach Reinigungsmitteln.
    »Damals
hatten wir noch keinen Strom. Der kam erst Mitte der Dreißigerjahre, und da
auch nur mit Halbspannung. Mein Vater konnte die vielen Kabel nicht ausstehen.
Er hatte Angst vor einem Brand, verständlich nach dem, was mit meiner Mutter
passiert war. Nach dem Unglück hat mein Vater ein System von Feuerschutzübungen
entwickelt. Er läutete eine Glocke unten auf dem Rasen und maß mit seiner alten
Stoppuhr die Minuten, die wir brauchten, bis wir draußen waren. Und dabei
schrie er die ganze Zeit, das Haus würde gleich lichterloh brennen wie ein
gigantischer Scheiterhaufen.« Sie ließ wieder ihr glasschneidendes Gackern
hören, dann blieb sie unvermittelt auf der obersten Treppenstufe stehen. »So«,
sagte sie, steckte den Schlüssel ins Schloss und hielt ihn einen Moment fest,
bevor sie ihn drehte. »Wollen wir?«
    Als sie
die Tür aufstieß, hätte mich das grelle Licht fast umgeworfen. Ich blinzelte,
bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnten und die Konturen im

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