Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
Vom Netzwerk:
Raum
allmählich hervortraten.
    Nach dem
mühseligen Aufstieg war das Dachzimmer auf den ersten Blick eine Enttäuschung.
Der ausgesprochen nüchterne Raum hatte nichts von einem viktorianischen
Kinderzimmer. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern im Haus, die liebevoll
erhalten waren, als könnten ihre ehemaligen Bewohner jeden Augenblick
zurückkehren, war das Kinderzimmer auf unheimliche Weise kahl. Als wäre es
gründlich geschrubbt und sogar frisch geweißt worden. Es gab keinen Teppich,
und die beiden eisernen Betten, die an der gegenüberliegenden Wand jeweils
links und rechts neben dem offenen Kamin längs ins Zimmer ragten, waren nicht
bezogen. Auch Vorhänge gab es keine, was die Helligkeit erklärte, und in dem
Regal unter einem der Fenster standen weder Bücher noch Spielsachen.
    Das Regal
unter dem Dachzimmerfenster.
    Mir schlug
das Herz bis zum Hals. Unwillkürlich sah ich das Mädchen aus dem Prolog vom Modermann vor mir, wie es nachts aufwachte und sich zum
Fenster hingezogen fühlte; wie es still und leise auf das Regal kletterte und
hinausschaute und von den Abenteuern träumte, die es eines Tages erleben würde,
ohne zu ahnen, welche Schrecken auf es warteten.
    »Dieses
Dachzimmer hat Generationen von Kindern der Familie Blythe beherbergt«, sagte
Percy Blythe, während sie sich im Zimmer umsah.
    Sie sagte
nichts zum kahlen Zustand des Zimmers oder zu seinem Platz in der
Literaturgeschichte, und ich drängte sie nicht dazu. Seit dem Augenblick, als
sie den Schlüssel im Schloss gedreht und mich eingelassen hatte, wirkte sie bedrückt.
Ich war mir nicht sicher, ob es die Auswirkung des Kinderzimmers war, oder ob
das grelle Licht einfach nur die Spuren des Alters in ihrem Gesicht deutlicher
hervortreten ließ. Wie auch immer, es schien mir wichtig, sie gewähren zu
lassen. »Verzeihen Sie bitte«, sagte sie schließlich. »Ich war ewig nicht hier
oben. Alles wirkt ... kleiner, als ich es in Erinnerung hatte.«
    Das Gefühl
kannte ich gut. Wenn ich in dem Bett in meinem ehemaligen Kinderzimmer
schlief, fand ich es immer wieder seltsam festzustellen, dass es zu kurz war,
oder das blasse Rechteck auf der Tapete zu sehen, wo einmal das Poster von Blondie gehangen hatte, deren Sängerin, Deborah Harry, ich als
Teenager verehrt hatte. Aber wie es sich anfühlte, ein Kinderzimmer zu
betreten, das man vor achtzig Jahren bewohnt hatte, konnte ich nur vage
erahnen. »Haben Sie alle drei als Kinder hier oben geschlafen?«
    »Nicht wir
alle, nein. Juniper nicht. Die ist erst später hier heraufgezogen.« Percy
verzog die Lippen, als hätte sie einen bitteren Geschmack im Mund. »Ihre
Mutter hatte in ihrer Suite ein Kinderzimmer eingerichtet. Sie war jung und
nicht mit den Gepflogenheiten vertraut. Es war nicht ihre Schuld.«
    Ihre
Wortwahl machte mich stutzig, und ich war mir nicht sicher, ob ich verstanden
hatte, was sie meinte.
    »Nach der
Tradition in diesem Haus bekamen Kinder erst mit dreizehn Jahren ein eigenes
Zimmer im unteren Stockwerk. Saffy und ich kamen uns sehr wichtig vor, als wir
nach unten ziehen durften, aber ich muss gestehen, dass ich das Dachzimmer
vermisst habe. Saffy und ich waren es gewöhnt, alles miteinander zu teilen.«
    »Das ist
wahrscheinlich normal bei Zwillingen.«
    »Allerdings.«
Die Spur eines Lächelns. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen die Tür zu den
Hausgeistern.«
    Der
Mahagonischrank stand in einer winzigen Kammer hinter den Betten. Die Decke
war so niedrig, dass ich mich beim Eintreten bücken musste, und ein süßlicher
Geruch schlug mir entgegen, der mir fast den Atem raubte.
    Percy
schien ihn nicht zu bemerken. Sie bückte sich ebenfalls und zog an dem niedrig
angebrachten Griff, woraufhin sich die verspiegelte Schranktür quietschend
öffnete.
    »Da ist
sie. In der Rückwand.« Sie sah mich durchdringend an, die Augenbrauenstriche
waren streng zusammengezogen. »Aber von dort aus können Sie sie bestimmt nicht
sehen.«
    Mir die
Nase zuzuhalten schien mir nicht schicklich, also atmete ich tief ein, hielt
die Luft an und beugte mich vor.
    Sie trat
beiseite und bedeutete mir, noch näher zu kommen.
    Ich
verscheuchte das Bild von Gretel vor dem Ofen der Hexe und kletterte in den
Schrank. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte
ich die kleine Tür.
    »Ah«,
sagte ich mit der letzten Luft, die mir blieb. »Da ist sie ja.«
    »Da ist
sie«, kam das Echo von außen.
    Notgedrungen
musste ich wieder Luft holen, aber der Geruch war gar nicht so schlimm,

Weitere Kostenlose Bücher