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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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jedenfalls. Ein Blitz hat den Himmel aufgerissen und ist direkt in den See
eingeschlagen. Der Junge schrie vor Angst, aber bevor die Kinderfrau zu ihm
eilen konnte, war er schon aus dem Bett gesprungen und aus dem Zimmer gelaufen.
Dummer Junge: Er ist ausgerutscht, gestürzt und wie eine Stoffpuppe am Fuß der
Treppe gelandet. Manchmal, wenn das Wetter besonders schlecht war, haben wir
uns vorgestellt, wir würden ihn nachts schreien hören. Er versteckt sich unter
der dritten Stufe, wissen Sie. Dort wartet er darauf, jemanden zum Stolpern zu
bringen, weil er hofft, auf diese Weise Gesellschaft zu bekommen.« Sie drehte
sich auf der Stufe unter mir um, der vierten. »Glauben Sie an Gespenster, Miss Burchill?«
    »Ich weiß
nicht. Irgendwie schon.« Meine Großmutter hatte Gespenster gesehen. Zumindest
eins: meinen Onkel, nachdem er in Australien mit dem Motorrad ums Leben
gekommen war. Er wusste nicht, dass er tot
ist, hatte sie mir erzählt: Mein armes Lämmchen. Ich habe ihm meine Hand gereicht und ihm gesagt, dass
alles gut ist, dass er nach Hause gekommen ist und wir ihn alle lieben. Ich
schüttelte mich bei der Erinnerung und bekam gerade noch mit, wie sich auf
Percy Blythes Gesicht, kurz bevor sie sich abwandte, ein Ausdruck grimmiger
Genugtuung zeigte.
     
    Der Modermann, das Familienarchiv und eine verschlossene
Tür
     
    Ich folgte
Percy Blythe über einen Treppenabsatz nach dem anderen, durch düstere Flure,
dann noch weiter nach unten. Noch weiter nach unten als zu dem Stockwerk, in
dem wir mit dem Aufstieg begonnen hatten? Wie alle Gebäude, die mit der Zeit
gewachsen sind, war Schloss Milderhurst ein einziges Labyrinth. Flügel waren
an- oder umgebaut worden, eingestürzt und wieder errichtet worden. Das Resultat
war mehr als verwirrend, vor allem für jemanden ohne eingebauten Kompass. Es
war, als fächerte sich das Schloss nach innen auf, wie eine dieser Zeichnungen
von Escher, wo man ewig über Treppen gehen kann, immer im Kreis, ohne jemals
das Ende zu erreichen. Es gab keine Fenster - zumindest, seit wir den
Dachboden verlassen hatten -, und es war schrecklich dunkel. Irgendwann hätte
ich schwören können, eine Melodie am Gemäuer entlangstreichen zu hören -
romantisch, melancholisch, irgendwie vertraut -, aber als wir um die nächste
Ecke bogen, war sie schon wieder fort, und vielleicht war sie auch nie da
gewesen. Aber eins bildete ich mir ganz bestimmt nicht ein, und das war der
eigenartige Geruch, der stärker wurde, je tiefer wir stiegen, und der nur deswegen
nicht unangenehm wurde, weil er so erdig war.
    Auch wenn
Percy die Vorstellungen ihres Vaters von den fernen Stunden als unsinnig
abgetan hatte, konnte ich nicht umhin, mit der Hand über die kühlen Steine zu
fahren und mich zu fragen, welche Spuren meine Mutter hinterlassen haben
mochte, als sie von Milderhurst weggegangen war. Das kleine Mädchen lief immer
noch neben mir her, sprach aber nicht viel. Ich dachte daran, Percy nach ihr zu
fragen, aber nachdem ich jetzt schon so lange hier war, ohne meine Verbindung
zu dem Haus offenbart zu haben, würde alles, das ich jetzt dazu sagen würde,
nur unglaubwürdig wirken. Schließlich entschied ich mich für die klassische
List. »Wurde das Schloss eigentlich während des Krieges beschlagnahmt?«
    »Nein.
Großer Gott. Das hätte ich nicht ertragen. Wenn man sich überlegt, wie viel
Schaden in einigen der angesehensten Häuser des Landes angerichtet wurde!
Nein.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Gott sei Dank ist es dazu nicht
gekommen. Aber wir haben unseren Anteil geleistet. Ich war eine Zeit lang
Lazarettschwester, drüben in Folkstone; Saffy hat Kleider und Verbandsmaterial
genäht und Schals gestrickt; selbst Juniper hat eine Weile gearbeitet, bei der
Feuerwehr in London. Wir haben auch eine Evakuierte aufgenommen in den ersten
Kriegsjahren.«
    »Ach ja?«
Meine Stimme überschlug sich fast. Neben mir begann das kleine Mädchen zu
hüpfen.
    »Auf
Junipers Drängen hin. Ein Mädchen aus London. Herrje, ich habe ihren Namen
vergessen. Das ist das Alter. Entschuldigen Sie den Gestank hier unten.«
    Irgendetwas
in mir verkrampfte sich aus Mitleid für das vergessene Mädchen.
    »Das ist
der Schlamm«, fuhr Percy fort. »Von dort, wo früher der Graben war. Das
Grundwasser steigt im Sommer an, dringt in die Kellerräume ein und bringt den
Gestank nach verfaultem Fisch mit sich. Zum Glück gibt es hier unten nichts,
was besonders kostbar wäre. Nur das Archiv, und das ist

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