Morton, Kate
weißt doch über Tom Bescheid! Wenn du nicht gewesen wärst,
hätten wir uns nie kennengelernt!«
Was auch
immer ich hätte darauf antworten können, wurde übertönt, denn in dem Augenblick
schlugen sämtliche Uhren im Haus die volle Stunde. Was für eine gespenstische
Symphonie, als Zimmer um Zimmer die Uhren einander riefen und das Vergehen der
Zeit verkündeten. Ich spürte die Schläge tief in meinem Innern, und eine
Eiseskälte legte sich über meine Haut. Ich hielt es nicht mehr länger aus.
»Ich muss
jetzt wirklich gehen, Juniper«, sagte ich, als die Uhren endlich schwiegen.
Meine Stimme klang heiser.
Ein leises
Geräusch hinter mir, und ich drehte mich um in der Hoffnung, dass Percy zurück
war.
»Gehen?«
Junipers Gesichtszüge erschlafften. »Aber du bist doch gerade erst gekommen. Wo
willst du denn hin?«
»Ich fahre
nach London zurück.«
»London?«
»Da wohne
ich.«
»London.«
Plötzlich kam eine Veränderung über sie, so schnell und dunkel wie eine
Gewitterwolke. Als sie mich mit erstaunlicher Kraft am Arm packte, sah ich
etwas, das mir vorher nicht aufgefallen war. Spinnwebfeine Narben an ihren
bleichen Handgelenken, über die Jahre silbrig geworden. »Nimm mich mit.«
»Das ...
das geht nicht.«
»Aber es
ist meine einzige Chance. Dann suchen wir Tom. Vielleicht sitzt er in seiner
kleinen Wohnung am Fenster ...« »Juniper ...«
»Du hast
gesagt, du würdest mir helfen.« Ihre Stimme klang gepresst, hasserfüllt. »Warum
hast du mir nicht geholfen?«
»Es tut
mir leid«, sagte ich. »Ich bin nicht ...«
»Du bist
doch meine Freundin, du hast gesagt, du würdest mir helfen. Warum bist du nicht
gekommen?«
»Juniper,
Sie verwechseln mich ...«
»Ach,
Meredith«, flüsterte sie, ihr Atem roch nach Rauch und Alter. »Ich habe etwas
Schreckliches getan.«
Meredith. Ich fühlte mich, als wären mir die Eingeweide umgedreht
worden.
Plötzlich
waren eilige Schritte zu hören, dann tauchte der Hund auf, gefolgt von Saffy. »Juniper!
Gott, da bist du ja.« Sie wirkte zutiefst erleichtert, als sie auf Juniper
zuging. Sie nahm ihre Schwester zärtlich in die Arme, löste sich dann wieder
von ihr, um ihr Gesicht zu mustern. »Du darfst nicht einfach weglaufen. Ich
habe mir solche Sorgen gemacht und dich überall gesucht. Woher sollte ich denn
wissen, wo du steckst, meine Kleine?«
Juniper
zitterte, und ich wahrscheinlich ebenfalls. Meredith ... Das Wort summte in meinen Ohren
wie eine Mücke. Ich sagte mir, es sei nichts, reiner Zufall, das bedeutungslose
Gerede einer verrückten Alten, aber ich war noch nie eine gute Lügnerin, und es
war zwecklos, mir etwas vormachen zu wollen.
Während
Saffy Juniper ein paar Strähnen aus der Stirn strich, kam Percy dazu. Sie blieb
abrupt stehen und betrachtete auf ihren Stock gestützt die Szene, die sich ihr
bot. Die Zwillinge tauschten einen Blick aus, ähnlich dem, den ich anfangs im
gelben Salon beobachtet und der mich so stutzig gemacht hatte, aber diesmal
wandte Saffy sich als Erste ab. Sie hatte es irgendwie geschafft, mich aus
Junipers Griff zu befreien, und hielt ihre kleine Schwester fest an der Hand.
»Danke, dass Sie sich um sie gekümmert haben«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Sehr freundlich von Ihnen, Edith.«
»Edith«,
wiederholte Juniper, aber sie schaute mich nicht an.
»Manchmal
ist sie ganz verwirrt und läuft überall herum. Wir versuchen, sie im Auge zu
behalten, aber ...« Saffy schüttelte kurz den Kopf, wie um anzudeuten, wie
unmöglich es war, sein Leben ganz und gar einem anderen Menschen zu widmen.
Ich
nickte, mir fehlten die Worte für eine Antwort. Meredith. Der Name meiner Mutter. Meine Gedanken schwärmten
zu Hunderten aus gegen den Zeitstrom, suchten die vergangenen Monate nach
Bedeutung ab, bis sie alle im Haus meiner Eltern landeten. Ein kalter
Februarnachmittag, ein Huhn, das nicht gebraten wurde, die Ankunft eines
Briefs, der meine Mutter zum Weinen brachte.
»Edith«,
sagte Juniper wieder. »Edith, Edith ...«
»Ja,
Liebes«, sagte Saffy. »Das ist Edith. Sie ist zu Besuch gekommen.«
Und da
wusste ich, was ich die ganze Zeit geahnt hatte. Meine Mutter hatte gelogen,
als sie sagte, der Brief von Juniper habe kaum mehr als einen Gruß enthalten,
genauso, wie sie mich in Bezug auf unseren Besuch in Milderhurst angelogen
hatte. Aber warum? Was war zwischen meiner Mutter und Juniper Blythe
vorgefallen? Wenn ich Juniper glaubte, hatte meine Mutter ihr ein Versprechen
gegeben und nicht gehalten, etwas, das mit
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