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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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schien. Sie straffte sich und kam auf mich zu,
langsam, aber entschlossen. Katzenhaft. Jede ihrer Bewegungen drückte diese
Mischung aus Vorsicht, Selbstsicherheit und Trägheit aus, die eine zugrunde
liegende Absicht zu verbergen sucht.
    Sie blieb
erst stehen, als sie mir so nah war, dass ich das Napthalin an ihrem Kleid und
den schalen Zigarettenrauch in ihrem Atem riechen konnte. Ihre Augen suchten
meinen Blick, ihre Stimme war kaum hörbar. »Kannst du ein Geheimnis für dich
behalten?«
    Ich
nickte, und jetzt lächelte sie auch; die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen
verlieh ihr etwas Kindliches. Sie nahm meine Hände, als wären wir zwei
Freundinnen auf dem Schulhof, ihre Handflächen fühlten sich weich und kühl an.
»Ich habe ein Geheimnis, aber ich darf es niemandem verraten.«
    »Okay.«
    Wie ein
kleines Mädchen legte sie eine Hand an den Mund und beugte sich vor bis dicht
an mein Ohr. Ihr Atem kitzelte. »Ich habe einen Verehrer.« Und als sie sich
wieder zurückzog, drückten ihre alten Lippen eine Wollust aus, die zugleich grotesk
und traurig und schön war. »Er heißt Tom. Thomas Cavill, und er hat mir einen
Heiratsantrag gemacht.«
    Plötzlich
überkam mich eine fast unerträgliche Traurigkeit, als ich begriff, wie
unerbittlich sie noch immer dem Moment ihrer größten Enttäuschung verhaftet
war. Ich betete, dass Percy zurückkommen und unserem Gespräch ein Ende setzen
möge.
    »Versprichst
du mir, dass du keiner Menschenseele was davon erzählst?«
    »Ich verspreche
es.«
    »Ich habe
Ja gesagt, aber schsch...« Sie legte sich einen Finger an die Lippen. »Meine
Schwestern wissen es noch nicht. Bald kommt er zum Abendessen.« Sie grinste,
Alte-Frauen-Zähne in einem puderglatten Gesicht. »Dann geben wir unsere Verlobung
bekannt.«
    Da fiel
mir auf, dass sie etwas an ihrem Finger trug. Keinen Ring, jedenfalls keinen
richtigen. Es war ein grobes Imitat, silbern, aber stumpf, wie ein Stück
zusammengerollte und in Form gedrückte Aluminiumfolie.
    »Und dann
werden wir tanzen und tanzen und tanzen ...« Sie begann sich zu wiegen und die
Melodie zu summen, die in ihrem Kopf erklang. Es war dieselbe Melodie, die ich
zuvor in den kühlen Nischen der Flure gehört hatte. Ich kam nicht auf den
Titel, dabei lag er mir auf der Zunge ... Die Schallplatte, denn um was sonst
sollte es sich handeln, war schon vor einer Weile abgelaufen, aber Juniper
lauschte noch immer, die Augen geschlossen, die Wangen gerötet von der
freudigen Erwartung einer jungen Frau.
    Ich habe
einmal zwei älteren Eheleuten dabei geholfen, ihre Lebenserinnerungen
aufzuschreiben, die sie in Buchform herausbringen wollten. Bei der Frau war
Alzheimer diagnostiziert worden, aber die Krankheit war noch nicht weit
fortgeschritten, und sie hatten sich entschlossen, die Erinnerungen auf Tonband
aufzunehmen, bevor sie davonflogen wie bleiches Herbstlaub von einem Baum.
    Bis das
Projekt beendet war, verging ein halbes Jahr, in dem ich hilflos miterleben
musste, wie aus Vergesslichkeit vollkommene Leere wurde, wie aus dem Ehemann
»der Mann da« wurde und die lebhafte, lustige Frau mit dem losen Mundwerk
schließlich verstummte.
    Nein,
Demenz hatte ich erlebt, und Juniper war nicht dement. Was auch immer in ihr
vorgehen mochte, leer war sie nicht, und vergessen hatte sie anscheinend auch
nicht. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr, daran bestand kein Zweifel.
Jede alte Frau, die ich bisher näher kennengelernt habe, hat mir irgendwann
mehr oder weniger wehmütig anvertraut, dass sie sich innerlich immer noch wie
achtzehn fühle. Aber das stimmt nicht. Ich bin zwar erst dreißig, aber ich weiß
es. Die Zeit hinterlässt bei jedem ihre Spuren: Das selige Gefühl jugendlicher
Unverwundbarkeit verschwindet, und die Last der Verantwortung wird immer
größer.
    Aber so
war Juniper nicht. Sie wusste tatsächlich nicht, dass sie alt war. In ihrem
Kopf wütete immer noch der Krieg, und nach dem zu urteilen, wie sie sich im
Takt zu der imaginären Musik wiegte, tobten in ihrem Körper immer noch die Hormone.
Sie war eine unglaubliche Mischung aus alt und jung, schön und grotesk, jetzt
und damals. Sie zu erleben war so atemberaubend und unheimlich, dass ich mich
mit einem Mal abgestoßen fühlte und mich im selben Augenblick zutiefst für
meine Gefühle schämte ...
    Juniper
packte mich am Handgelenk, die Augen weit aufgerissen. »Aber ja!«, sagte sie
und schlug sich die langen, bleichen Finger vor den Mund, um ein Kichern zu
unterdrücken. »Du

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